Georg Herold
Bettina Haiss über Georg Herold im Kunstmuseum Bonn, bis 7.1.18
Schon im ersten Raum der Ausstellung ist man mittendrin. GEORG HEROLD, der gerade eine umfassende, retrospektiv angelegte Schau am Kunstmuseum Bonn bespielt, empfängt mit offenen Armen bzw. einer einnehmenden Fülle an Werken aus verschiedenen Schaffensphasen. Den Mittelpunkt des generösen Auftakts bildet eine fulminante Aufstellung von vier Figuren, umgeben von einer Reihe von Leinwandarbeiten mit Ziegelsteinen an den Wänden. Auf weißen Sockeln liegen die überlebensgroßen, der menschlichen Gestalt nachempfundenen Dachlattenfiguren, die sich vereinzelt in provokativen Posen räkeln. Ein nacktes Dachlattengestell, die Rückenpartie zum Hohlkreuz gebogen, mit angezogenen, gespreizten Beinen, die schwarzen Nylonstrümpfe bis zu den Oberschenkeln hochgezogen, greift die Pose eines freizügig sich darbietenden Lustobjekts auf (Ohne Titel, 2010). Auch „Auf Achse“ (2017) geizt nicht mit ihren Reizen, eingenäht in ein Ganzkörperkostüm aus roher Leinwand. Die Arme lasziv nach vorne gestreckt, würde die emporgereckte Gesäßpartie anrüchig anmuten, wäre da nicht das in der unbequemen Stellung unbeholfen auf dem Boden abgesetzte Bein, quasi als Behelf, um das Gleichgewicht zu halten und nicht vom Sockel zu fallen. Ist das hier noch sexy oder schon Skulptur? Bei der Fertigung ist der Kopf einfach weggelassen worden, die Hände sind nicht ausgeformt, die Figur bleibt ohne Abschluss: sie endet mit der stumpfen Spitze einer Holzlatte und einem Stück lose herabhängender, ausgefranster Leinwand. Die Figur /Skulptur erscheint nicht nur in ihrer Pose ungelenk sondern trägt offensichtlich ihren unfertigen Zustand zur Schau.
Daneben erscheint „The Empress“ (2010) mitsamt Ecken und Kanten anmutig ausgestreckt in einer gespannten Haut aus himbeerrotem Elastikstoff, und „beef early“(2010) in sportlich-dynamisch in violetter Hochglanzhülle. Auf der anderen Seite des Raumes lehnt lässig und doch in gewagter Rückbeuge in einer etwas sperrig ausgeführten Ballettfigur das „Blühende Leben“ in gleißend pinkfarbener Lackhaut. Diese Kunstfiguren mit ihrer artifiziellen, übersteigerten Körperlichkeit, sind ausgefeilte Weiterentwicklungen, die Herold vornimmt, ausgehend von der Dachlatte als fundamentales Bauelement, durch welches sein Schaffen Gestalt annimmt.
Hoch oben hängt die „Gekrümmte Poesie“ (1993), eine in den Raum ragende Schleife aus Dachlattenstücken. Diese frühe Arbeit lässt vielleicht den Hintersinn des bildhauerischen Schaffens, ja das bildnerische Denken Georg Herolds in komprimierter Form anschaulich werden. Vielleicht hat die „konkrete Poesie“ als feststehender Begriff den Künstler zur Hervorbringung einer „Gekrümmten Poesie“ (1993) bewegt, eine im Titel legitimierte Bezeichnung, die nun auch in der konkreten Gestalt einer sich windenden Dachlattenskulptur in der Welt der Objekte einen Platz einnimmt. Es geht um die gedankliche Wende, das Angebot einer Alternative.
Insbesondere die frühen Werke erscheinen als schnelle Ausführungen einer Idee. Dabei erweist sich die Dachlatte als Kernzelle, die komplexere Formen annimmt. Sie dient gleichermaßen als Skizzenbuch, Merkzettel, Bauelement, zeichnerisches Liniengerüst. Zusammengeschraubt, sind Dachlatten beschriftet, Träger von plötzlichen Einfällen, impulsiven Reaktionen oder flüchtig vernommenen, oft englischen Idiomen, die schnell notiert „zum Bild gehauen“ werden. Es entstehen impulsive, improvisierte (bildhauerische) Setzungen, reliefartige Dachlattengerüste, die manchmal wie eine Pinnwand mit lapidaren Notizen daherkommen. So besteht „hoping, praying, believing“ (2013) aus der Verstrebung verschiedener Redewendungen, ebenso ergeben die kontextfreien Elemente „kannste knicken“, „geht’s noch? Hallo?“, „vollgeil, mach ich mit“ eine Wandarbeit mit dem Titel „by hook and by crook“ (2013).
Auslöser für Herolds bildhafte Verwertung ist die kulturelle Materie in jeglicher Ausprägung und medialer Erscheinungsform, von high bis low, von Geschichte und Politik bis Wissenschaft und Kunst. Aber auch die eigene Biografie bietet Stoff genug. Herolds spielerische, oft subversive Aneignung dieser Vorlagen mündet in assoziative Bildfindungen oder Bedeutungsverschiebungen, so dass die Annäherung an die Realität immer auch eine Abwandlung ist. Plötzlich steht man der gehäkelten Variante des Mandelbrot–Fraktals gegenüber, die aussieht wie ein abstrakter Topflappenteppich. Im selben Maße wie die spröde Dachlatte zur unmittelbaren Zustandsbeschreibung („Suddenly I find Myself Surrounded By Total Arseholes“, 2004) oder zur Veranschaulichung von „Deutschland in den Grenzen von 1937“ eingesetzt wird, eignet sich die biedere Hausfrauenhandarbeit zur Darstellung komplexer mathematischer Phänomene („Mandelbrot – Fragen Sie mal meine Mutter!“, 1993). Der Titel der Arbeit „Rumsfeld“ (2004) rückt nicht nur den Namen des ehemaligen US-Verteidigungsministers und damit die mit allen politischen Konnotationen versehene Personalie in den Vordergrund. Vielmehr übersetzt Herold den onomatopoetischen Wortlaut durch den Aufprall eines Pakets Ziegelsteine, das auf die Leinwand trifft wortwörtlich ins Bild: Rums-Feld.
Die Initialzündung für eine Bildidee kann ebenso der medialen Informationsflut entspringen wie einer beiläufigen Bemerkung oder der akustischen Empfindung einer Äußerung. So bleibt für Herold von einem Pushkin-Gedicht nichts übrig, außer Lautmalerei. Ausgehend von der eigenen Erfahrung, den Sinn des Gedichts, welches er zu Schulzeiten in der DDR auswendig lernen musste, nie erfasst zu haben, verwendet er die einzelnen Verse von „Der Embassist“ als schräge Begleitmusik für eine Serie von jüngsten Fotografien (2017), die in sämtlichen Räumen der Ausstellung verteilt sind. Die kyrillischen Titel sind für die Mehrheit der Betrachter eher kryptisch, so dass Botschaft und Bedeutung beliebig escheinen: Sprache als System wird demontiert, die Beziehung zwischen Titel und Werk, Wort und Bild, Signifikant und Signifikat wird gestört. Mit diesen Darstellungen konterkariert Herold die Sinnhaftigkeit von Wertvorstellungen, Wissensständen und sogenannter Wahrheiten, hebelt Klischees aus, führt Widerstand ein. Die in seiner Biografie begründete Skepis gegenüber jeglicher Information erlangt hierin Ausdruck.
Auch die Vitrinen, Symbole für Ordnung und Systematisierung, erwecken bei Herold den Eindruck, Bühnen von (Sinn-)Verschiebungen und verbalen Verballhornungen zu sein. „Idiolatrine Module“ (Complementäre Supplemente)“ von 1996 präsentiert sich als ein einfaches verglastes Holzgestell, das man eher in einer Werkstatt als in einem Wohnzimmer verortet, in dem eine Vielzahl, teils gestapelter, sorgfältig etikettierter Einmachgläser steht. Auf den Aufklebern stehen die Namen einschlägiger Duftkreationen wie Calvin Klein Obsession for Men, Tuscany for Women, Davidoff, Paloma Picasso. Was sich wie eine Sammlung wohlriechender Essenzen liest, erweist sich bei näherer Betrachtung des Inhalts als Ausstellung alter, nicht allzu ansehnlicher Socken. Für den Titel, scheint Herold die Wörter „Idolatrie“ „Idiotie“ und „Latrine“ zusammengeschraubt zu haben und mit dieser Neuschöpfung affektierte Attitüden und manierierte Ausdrucksweisen, insbesondere das Klischee, dass Französisch als „Modesprache“ gilt, zu karikieren.
In den großformatigen Kaviarbildern unterläuft er den überzogenen, mit Wohlstand und Dekadenz behafteten Wert des Luxusguts Kaviar, indem er die Kaviarmasse großzügig über die Leinwand verteilt und diesem Statussymbol durch die ketzerische Verwendung als Malmittel mit einer anderen Bedeutungszuweisung begegnet.
Herold legt sich nicht fest, er ist weder Wirklichkeit noch politisch korrekter Wiedergabe verpflichtet, sondern vielmehr der freien Auslegung. Er greift Ideen oder Idiome auf, interpretiert gleichermaßen hehre Begriffe wie „Kulturgut“ oder Redewendungen wie „Nur nichts anbrennen lassen“ in skulpturaler Form. Oft wird der Bezug zum Original verunklärt, die Herkunft lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Auch das eigene Werk bleibt vor der schonungslosen Verwertung nicht ausgenommen. Oft verpasst er eigenen Arbeiten eine extra Umdrehung, setzt noch eins drauf, wie etwa bei den Polyurethanabgüssen seiner Dachlattenkonstruktionen verschiedener Handhaltungen. Diese grellfarbigen Krallen wirken durch die vielen stehengelassenen Kunststoffgrate nahezu amorph. Theatralisch auf einer Bühne platziert, erscheinen sie wie grotesk gesteigerte, bizarr verformte Abbilder.
Auch die dreiteilige „Verwandlung von Dachlatten in Gold“ (1985) ist einer Weiter-Verwandlung unterzogen und präsentiert sich in grobes Sackleinen eingenäht als „Wohltemperierte Aussicht“ (2010).
Die Bonner Schau legt in einem mit über 80 Werken ausgestatteten Parcours das Werk von Georg Herold offen, das keine Einbettung in ein großes sinnhaftes Narrativ fordert. Vorgesetzt bekommt man künstlerische Erzeugnisse, denen stets eine Brüchigkeit eingeschrieben ist. Vieles entlockt zwar auf Anhieb ein Schmunzeln, etwa wenn er in Anlehnung an die von Lucio Fontana ausgeführten Schlitze in der Leinwand diese zunäht und das Ganze „Wiedergutmachung“ nennt. Manches andere entzieht sich jedoch dem einfachen Zugang und fordert eine konzentrierte Herangehensweise, eine Betrachtung jenseits der Oberfläche.
Artikelbild: Georg Herold, Ohne Titel, 2010, Dachlatten geschraubt, Strumpfhose , 80x 375 x 120 cm, Döpfner Collection, Foto: Jochen Littkemann, Berlin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017