Jede Nacht besucht uns ein Traum

Jede Nacht besucht uns ein Traum


Rosemarie Trockel – Zeichnungen, Collagen und Buchentwürfe, Kunstmuseum Bonn, bis 4.9.2011

 

Wir alle kennen sie, mindestens vom Hörensagen, die berühmte Passage, mit der ‚Die Ordnung der Dinge’ von Michel Foucault aus dem Jahre 1966 endet: „Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende.

Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, […] dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“

Unzählige Kommentare sind aus diesem Fazit, dieser Weissagung, erwachsen und haben sie vornehmlich als Verabschiedung des Individuums, der Subjektivität, so wie wir sie kannten, gewertet. Selten bis gar nicht wurde jedoch das eindringliche Bild des Gesichts im Sande erläutert oder hinterfragt. Die Szene erscheint nämlich nur bei oberflächlicher Betrachtung selbstverständlich: hereinbrechende Wellen überspülen und löschen die Konturen eines Gesichts am Strand. Wie und woher aber kommt das Gesicht in den Sand? Foucault liefert uns hierzu keinen Hinweis. Wenngleich unausgesprochen, kann aber eigentlich nur von einem zuvor in den Sand gezeichneten Gesicht die Rede sein. Wer aber hat es gezeichnet, im Wissen, dass die kommende Welle wie ein Wunderblock die Skizze, das Bild eines Menschen, ausradieren wird? Als Kandidatin hierzu möchte ich an dieser Stelle Rosemarie Trockel vorschlagen, hat sie doch wie kaum jemand sonst über die Jahre hinweg eine Neugier am anthropologisch noch Unbekannten Aufrecht erhalten und in ihren Arbeiten in immer wieder neuen Variationen thematisiert. Was bedeutet es, wenn der Mensch uns so fremd wird wie ein anderes Tier?

 

Dieser und ähnlichen Fragen kann man dankenswerter Weise im Kunstmuseum Bonn nachgehen, wo noch bis zum 4. September die fulminanten Zeichnungen, Buchentwürfe und Collagen der Künstlerin ausgestellt sind. Bespielt werden die drei Räume der graphischen Abteilung mit einer dichten, ansatzweise chronologischen Hängung auf braunbeige gestrichenen Wänden. Der mäandernde Parcours bietet einen konzentrierten Einblick in das graphische Werk der Künstlerin, deren erste institutionelle Einzelausstellung vor nunmehr 26 Jahren im Rheinischen Landesmuseum ebenfalls in Bonn stattfand.

Bereits damals spielten die Zeichnungen eine große Rolle, unterfüttern sie doch bis heute mit ihrem weit gefassten Spektrum an Serien und Motivreihen Trockels Strickbilder, Skulpturen, Installationen und Filmarbeiten, die zuletzt 2005 im Museum Ludwig eine angemessene Würdigung erfuhren. Nicht nur, aber vor allem in ihren Papierarbeiten entwirft Trockel eine Chiffrenschrift, die zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn zu vermitteln sucht. Aus der Fülle der Merkmale und Strukturen der Welt hebt die Künstlerin diejenigen hervor, die affektiv bedeutsam sind. Ein klares Bewusstsein für Zeitgenossenschaft und ein nahezu seismographisches Selbstverständnis fließen in die Tusche- und Bleistiftzeichnungen von Wesen ein, die zwischen Mensch, Tier und Engel nur graduelle Unterscheidungen zuzulassen scheinen.

 

Antworten liefert Trockel keine, was zu begrüßen ist, denn täte sie es, verlöre die Kunst ihre Legitimation und würde sich einreihen in den banalen Chor der ‚Expertenmeinungen’, denen Tag für Tag gestattet wird, die Nachrichtensendungen zuzumüllen um damit zu suggerieren, es gäbe einen Plan. Als wiederkehrende Themen lassen sich stattdessen Transformation, Metamorphose und Mutation ausmachen. Diese werden in einer endlosen Bandbreite an stilistischen Möglichkeiten durchgespielt. Keine persönliche Handschrift drängt sich auf. Nicht der Gestus oder der Stil gewährleistet die Zuordnung – von ‚eiligen Linien’ schrieb Sebastian Egenhofer einst treffend – sondern die virtuose Auswahl der Motive und deren Einbindung in einen bildnerischen Kosmos. Daher nimmt es nicht Wunder, dass Trockel sich nicht scheut, zwei Buntstiftzeichnungen aus dem Jahre 1970, dem Ende ihrer Schulzeit, in dieser Übersicht zu integrieren, eine davon in einer neuesten größeren Arbeit mit dem Titel „Childless Figure“ aus diesem Jahr hineincollagiert. In der überwiegenden Zahl beruhen die Motive sicherlich auf diversen Vorlagen aus Magazinen, Illustrierten, der Tagespresse, Druckerzeugnissen und Abbildungen jedweder Art. Alles kann Trockels Ökonomie einer vagabundierenden Sinnsuche einverleibt werden. Ein Panorama der Kultur- und Zeitgeschichte mit einigen wiederkehrenden Protagonisten, wie Bertolt Brecht, Brigit Bardot, Beate Klarsfeld oder Jackie Kennedy, entfaltet sich vor unseren Augen. Jenseits von Diskursivität und Regelsystemen und jenseits bloß intellektueller Intuition entwirft Trockel ein Zeichen- und Begriffssystem, das aus der Innovation einer abschweifenden und spekulativen Sprache lebt. Friedrich Schlegels Diktum, das die Worte respektive Bilder sich selbst oft besser verstehen,  als diejenigen, von denen sie gebraucht werden, kommt einem hierbei in den Sinn.

 

Die Lage ist allerdings viel zu ernst, als das wir dabei auf den Humor verzichten könnten. Trockels Anliegen wird jedoch mit Engelszungen vorgetragen und zielt auf Durchlässigkeit. Seit die Künstlerin im Jahre 1988 ihre Ausstellung in New York mit dem Titel ‚Endlich ahnen, nicht nur wissen’ versah, geistert dieser Spruch als Motto ihrer Kunst durch zahlreiche Äußerungen zu ihrem listenreichen Werk. Unter den Buchentwürfen zu Veröffentlichungen wichtiger Themen, die es leider noch nicht gibt, deren Bearbeitung laut Trockel jedoch wünschenswert erscheint, findet sich in Bonn auch der Umschlag mit eben diesem Ausspruch. Entnommen ist er der Unterhaltung zweier Engel. Deren Unterredung fand 1986 in einem Autohaus am Kurfürstendamm, sitzend in einem als ‚Zuhälterschlitten’ titulierten Cabrio, statt. Der Engel Damiel bekundet damit in Wim Wenders Film ‚Himmel über Berlin’ seinen Wunsch nach menschlicher Identitätserfahrung. In der ‚Weissagung’ schrieb Peter Handke, der auch das Drehbuch zum Film verfasste: „Und ein Mensch wie du und ich wird ein Mensch wie du und ich sein. Und die Neugeborenen werden sich fühlen wie neugeboren.“ Es sollte nicht wirklich überraschen, wenn die Ausstellung zu solchen Gestimmtheiten zu motivieren vermag. Trockels Anthropologie speist sich aus dem Geist der Romantik, die mit Ironie, Skepsis und dem Zweifel operiert und eine spielerische Erkenntniskompetenz der Kunst einfordert. Ihre Bilder tragen dazu bei, neue Gestaltungen des Sichtbaren, des Sagbaren und des Denkbaren zu entwerfen. ‚Jede Nacht besucht uns ein Traum – Ein Beitrag zur Psychologie der höheren Töchter’ lautet ein allerdings nicht ausgestellter Buchentwurf der Künstlerin. Wer zweifelt da noch daran, dass wir Menschen Wesen mit Selbsterfahrungsbedarf sind.

Harald Uhr


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