Kerry James Marshall
Sabine Elsa Müller über den Wolfgang-Hahn-Preisträger 2014
Zweimal hat er an der Documenta in Kassel teilgenommen, 1997 und 2007, und auf der Biennale in Venedig war er 2003 dabei, dennoch kann man nicht behaupten, dass Kerry James Marshall hierzulande einem breiteren Publikum bekannt wäre. Wie bei kaum einem oder einer der Künstlerinnen und Künstler, denen der nunmehr zum 20. Mal von der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig verliehene Wolfgang Hahn Preis zuerkannt wurde, liegt immer noch der Schleier des geheimnisvollen Unbekannten über dem diesjährigen Preisträger. Desto begrüßenswerter die Entscheidung der Jury. Ja man kann sagen, Kerry James Marshall ist als Kandidat für den hochdotierten und –geschätzten, nach dem Sammler und ehemaligen Chefrestaurator von Wallraf-Richartz-Museum und Museum Ludwig benannten Preis geradezu prädestiniert, wird doch laut Statuten ein Künstler / eine Künstlerin gesucht, der / die „internationale Anerkennung in der Fachwelt genießt und in Deutschland aber noch nicht so bekannt ist; zudem sein / ihr Werk noch nicht adäquat im Museum Ludwig vertreten, jedoch für die Fortführung der Sammlung wichtig ist.“ Denn ein Ankauf ist in den 100.000 € Preisgeld mit inbegriffen. Dass die Gesellschaft für Moderne Kunst zum zwanzigjährigen Jubiläum des Wolfgang Hahn Preises auf die sonst übliche Preisträger-Ausstellung mit Publikation verzichtet zugunsten einer Präsentation aller 20 Preisträger seit 1994 ist allerdings sehr bedauerlich. So werden wir auch diesmal wieder nicht in den Genuss kommen, diese außergewöhnliche Position umfassender kennenzulernen.
Dabei ist Kerry James Marshall, der 1955 in Birmingham, Alabama, geboren wurde und in Chicago lebt, in den USA eine feste Größe und in vielen Museen vertreten. Schon sehr früh entdeckte er sein Interesse an Bildern und sein herausragendes Zeichentalent. Als Afroamerikaner war er einer der wenigen schwarzen Studenten am Otis Art Institute in Los Angeles, das ihm später die Ehrendoktorwürde verlieh. Laut Marshall waren damals am Otis von etwa 200 Studenten vier schwarz, ihn eingeschlossen. Der junge Marshall interessiert sich sehr stark für Kunstgeschichte und beschäftigt sich mit alten künstlerischen Techniken wie der Malerei mit Eitempera, die seit dem Mittelalter praktiziert wurde. Unter dem unmittelbaren Einfluss der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 60er und 70er Jahre macht er sich auf die Suche nach einem afroamerikanischen Äquivalent zum eurozentrischen Kunstkanon. Der Durchbruch gelingt 1980 mit seinem „Portrait des Künstlers als Schatten seines früheren Selbst“. Marshall malt in einer völlig flächigen Manier eine schwarze Person vor schwarzem Hintergrund, so dass sich das Weiß der Augen, der Zähne und des Hemdausschnitts gespenstisch gegen ein fast unstrukturiertes Schwarz absetzt und dem Portrait eine absurde, aber nichtsdestotrotz sehr präsente Ausstrahlung verleiht. Und er malt dieses Portrait in Eitempera, derselben Technik, in der sich die stolzen Kaufleute und Dogen der Renaissance portraitieren ließen. Aber das nuancenlose Schwarz nivelliert alles Persönliche oder Charakteristische – ein gesichtsloses Antlitz lacht uns entgegen. Den literarischen Hintergrund für diese radikale Umsetzung einer paradoxen Existenz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit lieferte ihm der Roman „Invisible Man“ von Ralph Ellison, der damit eine Metapher für die schwarze Identität schuf.
Marshalls großformatige Bilder, die an Plakate oder Wandmalerei erinnern, sind moderne Historienbilder. Sie transportieren das Leben der schwarzen Bevölkerung in eine überzeitliche Erzählung, die in keinem Geschichts- oder Kunstgeschichtsbuch zu finden ist. Dabei arbeitet Marshall vordergründig häufig mit einer überschaubaren, heilen Welt, Inszenierungen idyllischer Gartenszenen oder eines romantischen Stelldicheins. Auf dem fast 2 x 2 m großen „Slow Dance“ von 1993 tanzt ein Paar eng umschlungen in einem Zimmer, das unschwer als privates Wohnzimmer zu erkennen ist. Die Möbel, die hellen Farben, besonders der reich ornamentierte Teppich wirken heiter, sinnlich und bewegt, nur das Paar hebt sich schwarz und starr aneinander geklammert gegen die Umgebung ab. Es wirkt wie ein Fremdkörper, ohne Kontakt zu dem mittelständischen Milieu, in dem sich die Szene abspielt. Das Paar ragt wie eine statuarische Allegorie der Verlorenheit aus der wohlgeordneten Umgebung heraus.
2013 bezieht er sich in der mit 3 x 5 ½ Metern monumental aufgeblähten „Club Scene“ auf ein Schlüsselwerk der europäischen Kunstgeschichte, den „Meninas“ von Velázquez aus dem Jahr 1656. Die auffälligste Motivübernahme ist sicher die offene Tür mit den vom Gegenlicht beleuchteten Personen. Diego Velázquez wird als Vertreter der großen Epoche der repräsentativen Malerei zwischen dem 15. – 17. Jahrhundert zum direkten Anknüpfungspunkt auf der Suche nach einer angemessenen Bildsprache für die Repräsentation der schwarzen Geschichte. Aus dem großen feudalen Raum bei Velázquez wird ein festlich geschmückter Veranstaltungssaal. Die großzügigen Proportionen werden durch das lebhafte Muster der Wandverkleidung optisch zusammengezogen. Es ist ziemlich duster, obwohl das Licht von drei Scheinwerfern in den Raum fällt. Hier wird nichts beleuchtet, weder von den Scheinwerfern, noch vom Lichtstrahl, der aus der geöffneten Tür eindringt oder den Spots an der Decke. Die lichtabsorbierende Wirkung des Schwarz und die Schwierigkeit, Schwarz plastisch darzustellen, gehören zu den malerischen Grundproblemen dieser Bilder. So erzählerisch harmlos die Umgebung wiedergegeben wird – Dekoration und Luftballons arbeiten gegen den Eindruck einer theaterhaften Überhöhung – so holzschnitthaft wirken die Personen. An der Decke hängen Poster von Größen der Musikszene wie eine königliche Ahnenreihe, denen die „Doyenne of Jazz“ oder die „Enfanta“ ihre Titel entleihen. Obwohl alles auf ein Fest hindeutet, herrschen Beklommenheit und eine in sich gekehrte Geschäftigkeit. Von der selbstbewussten Präsentation bei Velázquez ist das Personal dieses Gemäldes weit entfernt.
Fröhlichkeit, ja Ausgelassenheit strahlen dagegen die Personen der „Vignetten“ aus, einer Werkreihe, die seit 2005 entsteht. Marhall bezieht sich hier auf die Malerei des Rokoko, beispielsweise die Schäferszenen eines Fragonard (1730 – 1806), die ein unbeschwertes und sinnenfrohes Lebensgefühl ausdrücken sollen. In ihrer Überschwänglichkeit und süßlichen Ausstattung mit Blumen und herumschwirrenden Vögeln entlarven sich diese Genrebilder eindeutig als stilistische Parodie. Sie simulieren ein hypothetisches Lebensgefühl in Ermangelung einer tatsächlich vorhandenen Erfahrung sorgloser Existenz. Symbole afrikanischer Kultur wie Artefakte der Schnitz- oder Töpferkunst rahmen diese Szenen ein. Bei der Vignette Nr. 15 aus diesem Jahr – es handelt sich um die Arbeit, die für das Museum Ludwig angekauft wurde – steht eine gespaltene Holztafel mit einem großen X für einen der Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, Malcolm X, der 1965 ermordet wurde. Marshall bindet dieses Bild, das sich aus sehr unterschiedlichen Elementen collageartig zusammensetzt, mit raffinierten malerischen und kompositorischen Mitteln. Er verbindet die Illusion mit der harten Realität wie das Banale mit dem Emblematischen.
Kerry James Marshall ist nicht nur Maler – er arbeitet auch mit Fotografie, Installation und Film. Sehr gekonnt und grafisch hervorragend umgesetzt sind auch seine „Dailies“, eine 1999 begonnene Reihe von Comic Strips, in denen er eine afroamerikanische Gegenwelt zu den weißen Comic-Helden entwirft. Das gesamte Werk Marshalls ist von den unmittelbaren sozialen und politischen Fragen der schwarzen Bevölkerung geprägt und findet dafür sehr eigenständige formale Lösungen. Will man sich einen näheren Eindruck von diesem einzelgängerischen Werk verschaffen, muss man sich schon etwas weiter weg bemühen. In Kopenhagen ist derzeit die umfassende Einzelausstellung „Painting and Other Stuff“ zu sehen (Kunsthal Charlottenburg, bis 04.05.2014), die anschließend nach Barcelona (Fundació Antoni Tàpies, 10.06. – 26.10.2014) und Madrid (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, 12.06. – 26.10.2014) wandert. Der Wolfgang-Hahn-Preis wird Kerry James Marshall am Samstag, den 12. April 2014, um 19 Uhr im Museum Ludwig verliehen.