Von fliegenden Toastbroten und verballerten Hirnen


„Schön reicht nicht“: In Brühl sind über 400 Zeichnungen und Gouachen des großen deutschen Zampano des intermediären Aktivismus und der multitoxischen Selbstbespiegelung zu sehen.Andreas Richartz über Jürgen Klauke „Selbstgespräche. Zeichnungen 1970–2016“ im Max Ernst Museum, Brühl, bis 16.7.

Die von Achim Sommer, Jürgen Pech und Eva Lenhardt kuratierte Ausstellung lädt ein, den sehr persönlichen jungen Blick eines wichtigen Protagonisten wilder Kölner Kunst-Jahre bis hin zu dem des arrivierten deutschen Künstlers zu verfolgen, der er heute ist. Nicht nur, aber auch eine Fundgrube humoriger Provokation. Die Fundgrube enthüllt: Klaukes zeichnerisches Oeuvre bildet oftmals direkte Bezüge zu seinen weitaus populäreren fotografischen Inszenierungen. Es inspiriert seine verstörende Body-Art ebenso wie seine Arbeiten mit Polaroid. So rekurriert und verwebt es sich bis heute im eigenen bildnerischen Kosmos, führt buchstäblich die Selbstgespräche, die vonnöten sind, um nicht zuletzt einem künstlerischen Wiederholungsekel zu entkommen, der auch Klauke nicht unbekannt sein mag.

Manche mögen es so sehen, dass Klauke sein Leben inzwischen von ehrbarer Bürgerlichkeit hat teil-okkupieren lassen. Davon zeugt seine Berufung als ordentlicher Professor an die Kölner KHM von 1993 bis 2008, ebenso seine Mitgliedschaft in der Jury des Brühler Max-Ernst-Stipendiums. Klauke steht mit der Ausstellung in Brühl tatsächlich plötzlich als einer der letzten großen „Elder-Art-Men“ Deutschlands da. In der sogenannten Hoch-Kultur ist er dank seiner selbstreflexiven Eloquenz längst angekommen.

Gleich zu Beginn werden wir mit einem noch immer zu wenig rezipierten Klauke konfrontiert. Vier Beispiele aus „Entlang der Cioran-Linien“ (2009/10, Tusche auf Papier), eine Auseinandersetzung mit dem großen rumänischen Misanthropen E. M. Cioran, die im Verlauf der Ausstellung fulminant entfaltet wird, plus 52 Auszüge aus „Voces/Stimmen“ (Bleistift auf Papier, 2010), stehen zu Beginn neben großformatigeren Gouachen jüngeren Datums, die einen beträchtlichen Teil des Ausstellungsraumes einnehmen. Dieses Potpourri scheint nicht der eigentlich angemessene Beginn für eine retrospektive Chronologie zu sein. Doch Chronologie will die Architektur der Hängung ebenso wenig vermitteln wie Retrospektivität. Eine umgekehrte Reihenfolge hingegen schon. Die Show rollt die Geschichte von der Gegenwart aus auf und dieser kuratorische Schachzug entpuppt sich alsbald als wundervoll. Den frühen Blättern begegnen wir erst später, im hinteren Drittel des Luise-Straus-Ernst-Saals.

Gezeigt werden ausschließlich Originale des zeichnerischen Werks, von der frühen Serie „(Ich & Ich). Erotografische Tagesberichte“ (1970/71, Tusche auf Papier) bis zur mit rund 200 Arbeiten größten Serie „Körperzeichen/Zeichenkörper“ (Tusche auf Papier), an der Klauke seit 2011 arbeitet und von der Auszüge der Teile II, III und IV zu sehen sind.
Oft sind die Bildränder der Tagesberichte und Tageszeichnungen mit tagebuchartigen Aufzeichnungen versehen, die selten Zusammenhänge zu den Skizzen aufweisen, dafür umso deutlicher Auskunft über die offenkundig von Drogen-Experimenten begleiteten promiskuitiven Lebensumstände geben. Der Geist eines unbändigen Filous weht durch diese frühen Blätter. In der Serie „Philosophie der Sinnlosigkeit“ (Bleistift auf Papier, 1975/76) werden die Worte schließlich selbst zum Gegenstand zeichnerischer Auseinandersetzung (Warten; Allein; Nichts; Sinnlos). Immer wieder wunderbar: Die frühen Bilder Klaukes verfügen über eine Detaildichte, die die langen Nächte im EWG und anderen Kölner Gastro-Legenden geradezu spürbar werden lässt. Und sie dokumentieren: Klauke ist kein je um naturalistische Raumtiefe bemühter Zeichner und nicht nur deswegen, sondern auch wegen des technisch auffallend ähnlich bewältigten sexuellen Sujets sind seine Darstellungen einer entindividualisierten mechanistischen Sexualität in einer Nähe Tomi Ungereres zu verorten.

Klauke hat sich nie für formalistische Konzepte einer Kunst für Kunst interessiert. Sein Leben war es, das immer schon die Grundlage für ein Werk stellte, das von Anbeginn die Selbstbespiegelung allen Externalisierungen von Inhalten vorzog. Damit wandelt er bis heute auf einem unbequemen Grat. Die Botschaft dieser Ausstellung: Leben ist nicht nur absurd, es ist auch genuin politisch. Politisch ist diese Kunst, weil sie (nicht obwohl sie) im Rekurs auf die eigene zu verhandelnde Sache ihre Kraft schöpft. Klaukes Arbeit reflektiert auf einem niedrigen Scham-Niveau und ohne Scheu die Unmittelbarkeit seiner Empfindungen, sie transferiert sie in einen künstlerischen Lebensentwurf als Mehrwert der bloßen Existenz. Seinem grundlegenden Skeptizismus ist er bei allem Hedonismus immer treu geblieben. Was Letzteren betrifft: Klaukes immer wieder durchscheinendes „sexuelles Universum zwanghafter Begierden“ (Hans Michael Herzog im Katalog zur Ausstellung), all die schlaffen (manchmal auch erigierten) Penisse, Dildos, Brüste und Hoden, die von Ejakulaten und Urin torpedierten Körperfragmente erscheinen heute – aus zeitlicher Entfernung betrachtet – in ihrer frühen Omnipräsenz wie die Notwehr eines Pfarrersohnes, dem man zu oft die adoleszenten Finger auf die Internats-Schlafdecke gelegt hat. Wegen solcher Darstellungen empfiehlt das Haus, den Blick vor manchen der Exponate vor dem 16. Lebensjahr gesenkt zu halten. Wer also Anfechtungen gegenüber Klaukes Frühwerk geltend machen mag, wird in Brühl weitreichend fündig. Wer den Humor am Rand existentieller Verzweiflung noch einmal neu entdecken und dabei nachvollziehen möchte, wie er sich früh bereits durch schiere Lebensumstände speist, kann dies in Brühl ebenso auf üppige Weise.

Auch wenn Klaukes Selbstverwandlungen Mitte bis Ende der 1970er-Jahre, die nicht von Ungefähr an den frühen Bowie und den schillernden Mercury in ihren Glamrock-Phasen erinnern, in der Ausstellung nicht thematisiert werden: Es finden sich viele zeichnerische Beispiele aus dieser Zeit, die historisch in unverhohlen existentieller Nähe zu den Auswüchsen all der Mapplethorpes, Bukowskis und Warhols jenseits des großen Teichs zu stehen scheinen, doch niemals so intendiert waren; unbeabsichtigte Synchronizität künstlerischer Ereignisse, nicht solche eines billigen Diebstahls der Ideen. Pop-Art und überhaupt die amerikanische Kunst haben Klauke damals wenig interessiert. Vielmehr die europäische Literatur: Bataille, Klossowski, Artaud entsprachen seinem Denken und Empfinden mehr, ähnlich wie die positiven Ansätze bei Surrealismus und DADA. Hans Bellmer und Pierre Molinier waren wesentliche Einflüsse für ein zu explorierendes zeichnerisches Werk. Denn: Klauke wollte immer eigene Bilder schaffen, zeichnen, Fotografien „denken“, keine existierenden Bilder nutzen. Mit seinem Werk insgesamt liegen uns mentale „Blähungen einer fast hochsensibel zu nennenden inneren Registrierkasse“ (Klauke) vor, die ihresgleichen suchen und ihre Anfänge als permanent flatulierenden Monolog mit dem Zeichenstift finden.
Um den Blockaden zu entkommen, thematisiert Klauke früh sein Wahrnehmungs-Subjekt, nicht aus narzisstischer Selbstbeweihräucherungslust, wie ihm häufig unterstellt wurde. Das Bittere im Humor und der Humor im Bitteren sind Ihm als starke Trigger einer höheren Aufmerksamkeit geläufig und er sieht sich und seinen Körper als Material für seine künstlerische Praxis. Und Klaukes Körper war und ist immer auch sein Leben. Das alles fand seinen Anfang mit den Werkreihen eines zeichnenden Künstlers als regelmäßig vollgedröhnter junger Mann.

Wie man es inzwischen von Brühl gewohnt ist, war das Team erneut gewillt, eine Ausstellung als temporären Forschungsstützpunkt anzulegen: Insgesamt drei Bildschirm-Terminals (zwei in Din-A6 und ein Din-A4-Format) stehen bereit, sieben digitalisierte Original-Veröffentlichungen seiner frühen Zeichen-Bücher in ihrer jeweiligen Gänze zu präsentieren. Dazu gesellen sich zwei 45-minütige Film-Portäts („Freischwinger“ von Peter Schwerfel aus dem Jahr 2001, der zur großen Ausstellung von Klaukes fotografischem Werk in der Bundeskunsthalle Bonn 2001 entstand und „Eine Ewigkeit – Ein Lächeln“ von Thomas Schmitt aus dem Jahr 1993).

Die formale Qualität der Ausstellung überzeugt, die In-Reihe-Hängung der Originale führt über die Ausstellungswände hinaus den ursprünglichen Charakter ihrer Veröffentlichung in Buchform fort. Intensive 50 Jahre eines Künstler-Lebens, multipler Tabubrüche und der Fokussierung auf die subversiven Kräfte der Erotik und des Humors, die auf ein künstlerisches Konto gehen, das noch immer stetig wächst.

Der einzige Wermutstropfen, den der famos gestaltete und mit kenntnisreichen Essays angereicherte Katalog bereithält: Die oft mit hermetischen Notaten seiner psychischen Befindlichkeit gespickten Zeichnungsserien sind weitgehend unleserlich reproduziert. Eine typographische Übertragung in Lesbarkeit als angehängtes Glossar hätte den Katalog nicht nur für kunst- sondern auch für literar-affine Rezipienten zur Sensation gemacht. Für die melancholischen Humoristen aus dem „rheinländischen Kosmos“ sowieso.

Bevor sich Brühl mit Miro im Herbst 2017 dann wieder anschicken wird, ein halbes Jahr Geld zu verdienen: Jürgen Klaukes Selbstgespräche sind mehr als nur eine relevante Ausstellung zum Frühwerk eines der wichtigsten deutschen Künstlers. Seine zeichnerischen „Ästhetisierungen des Existentiellen“ in Brühl bergen und heben den Schatz des Beginns und der Bedingungen eines ganzen Lebenswerks.


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