Die Struktur der Kathedrale
Oliver Tepel über die Neuerscheinung „Lampe und sein Meister Immanuel Kant – eine Graphic Novel“ von Antje Herzog, Edition Büchergilde, 2017, durchgehend illustriert und handgelettert. Bedruckter, fester Einband, zweifarbig gedruckt, Format 21 x 27 cm, 152 Seiten, € 26,-, ISBN 978-3-86406-068-7
Alles ist fein unterteilt, in geordneten Proportionen, nichts darf das Andere durchdringen, sonst ist der Welten Ruhe in Gefahr. So wissen wir, was Kunst ist und was nicht und es geziemt sich nicht, danach zu fragen, man entkleidet nicht jene, die einen füttern. Ob Immanuel Kant entkleidet wurde, gewaltsam gar? – Was geschah, dass den alternden Philosophen dazu bewog, sich von seinem Diener Lampe abrupt zu trennen, ja sich selbst aufzuerlegen, ihn zu vergessen, das bleibt auf den heutigen Tag unklar.
Dass Kunst investigativ arbeiten kann, ist seit der politischen Konzeptkunst der 90er zumindest formal nicht ausgeschlossen. Dass Comics Kunst sein können, ist allerdings ausgeschlossen, derzeit unterstreicht dies eine Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle. Es gibt eine Welt der poppigen Ausrufezeichen und ja, in der können Comics ein „schon echt ganz also wirklich und das gilt es auch zu würdigen, ist ja nicht mehr wie damals wir kannten ja nur Fix und Foxi“ Irgendwas sein, aber sicher keine Kunst. Was Unsinn ist, allein deswegen, da die Definition beider Begriffe für sich, also der von Kunst und Comic schon gen unendlich gehen, es eigentlich im definitorischen sinnentleerte Begriffe sind; Begriffe, denen aber dennoch eine Information innewohnt. Das hätte Kant interessiert, er hätte wohl auf die empirische Anschauung verwiesen. Und da er nun Thema dieses Werks ist, lassen wir doch einfach einmal zu, den Comic qua empirischer Anschauung als Kunstbuch zu begreifen.
Die Kölnerin Antje Herzog wollte in „Lampe und sein Meister Immanuel Kant“ aber weder die Diskussionen um den Comic an und für sich neu beleben, noch dem Leser Kants Lehre erklären. Zugleich ist ihr Werk aber auch keine „Graphic Novel“ wie es der Buchdeckel, wahrscheinlich aus Gründen der Vermarktbarkeit (welche der Begriffe bedarf) fälschlicherweise verspricht. „Lampe und sein Meister Immanuel Kant“ ist vielmehr eine Sammlung von Skizzen und Ideen, eine Projektbeschreibung gar. Das Projekt, herauszufinden, was da geschah zwischen Kant und seinem Diener, scheiterte und Antje Herzog ist freimütig genug, dies offen zuzugeben. Dabei ist schon eines spannend: die recht kompliziert geordneten Texte, welche sie voranstellt, werfen die Frage auf, ob sie Subtext der Bilder sind oder die Bilder die Texte erläutern. Ich wäre für erstere Leseweise, denn die Bilder sagen mehr, als in ihnen angelegt ist! Aber vielleicht liege ich falsch und es geht letzten Endes um das Miteinander.
Zarte, fein detaillierte Hintergründe bilden mitunter das Thema ganzer Seiten, Zeitkolorit und ordnendes System zugleich. Herzog ist eine routinierte Meisterin ihres Sujets, auch wenn ihr in den handgepunkteten Schraffuren die Ruhe (oder die Drogen) eines Moebius fehlen. Diese Unruhe kaschiert sie durch eine stylische Nachlässigkeit, wie es die Maler seit dem Expressionismus auch nicht anders machen und wie sie insbesondere im deutschen Comic zum Stilmerkmal wurde. Doch zum Glück entsagt sie sich dessen schablonenhaftem Holzschnittcharakter, welcher international gar zum Markenzeichen für den jüngeren deutschen Comic geworden ist und ihn auf selbe Weise in eine Sackgasse führt, wie es die Leipziger Schule mit der abbildenden Malerei tat. Eher schon fühlt man sich an die feingliederigen Sittengemälde einer Line Hoven erinnert, aber auch das trifft es nicht wirklich. Tatsächlich knirscht es im Verbund aus leichtem Detail und inszenierter Nachlässigkeit bei den menschlichen Figuren, die etwas ungelenk und distanziert holzpuppengleich durch die Panels schreiten. Besonders die Kontinuität der Figuren fehlt und genau dies wird zur Stärke von Herzogs Werk! Denn statt nach Identifikation sucht der Betrachter nun nach Struktur.
Was sehen wir in der Struktur? Wie Königsberg aussah, welchen Weg Kant täglich beschritt, was er gerne aß und wie er sich bettete, Regeln und Formen und deren Störungen – im Alltag, nicht in der Theorie. Doch diese Strukturen beginnen zu erzählen, vorbei an Herzogs Versagen, herauszufinden, was Kant bewog, den 40 Jahre bei ihm Angestellten „völlig vergessen“ zu wollen. Zugleich bleibt sie, wie viele seiner Biographen im staunenden Ungewissen über den Zusammenhang zwischen dem privaten Kant und seinen Theorien. Es ist eine Stärke des Comics, Strukturen illustrativ entstehen zu lassen, die weder Text, Einzelbild noch Film generieren können. Bald nach der Lektüre beginnt der Leser zu ahnen, dass hier mehr verborgen sein könnte, blättert hinein, vor und zurück. Herzogs Recherchearbeit ließ ein biographisches wie habituelles Gerüst entstehen, eines, welches ihre Ausgangsfrage vielleicht gar ziemlich präzise umkreist und doch sein Zentrum nicht findet.
Ich denke an meinen eigenen Text im Artblog über Andor Weiningers Aquarell „Komposition mit surrealer Landschaft und häuslicher Szene“, denke an die kürzlich bei Arte ausgestrahlte Dokumentation über Sam Cooke und sitze plötzlich wieder in einer der Hörkabinen von Phil Collins Ausstellung „In every dream home a heartache“ im Museum Museum und blicke in den Abgrund. Horror Vacui oder einfach ein rein sachliches Scheitern in einem Moment, wo die mühevolle Arbeit weit fortgeschritten ist und ein Abbruch ungute Konsequenzen, nicht zuletzt für die eigene Psyche hätte. Vielleicht ist es auch gut, nicht abzubrechen denn, und das mag ich akzentuieren: Antje Herzog hat in ihrem Scheitern an der selbstgestellten Leitfrage Großes geleistet. Zur Hilfe kam ihr das Vermögen, die erwähnten Möglichkeiten der Kunstform des Comics auszuschöpfen. Wo mein Text stammelnd lavierte, die Konzeptkunst Ausstellung als Schachbrett endete, auf dem lebende Figuren zur moralischen Erbauung herumgeschoben wurden und die Filmbiographie nicht mehr ist, als das blanke Entsetzen des Nachts alleine vor dem Schneideprogramm inmitten des für zig Tausende abgedrehten und doch unzureichenden Materials, da eröffnet Antje Herzog in Bildern und mit komplex auf ihre Funktion als Sprache einer bestimmten Person oder als Zitat oder begleitender Kommentar variierter Typografie eine semantische Welt. Und in diese zoomt sie hinein oder findet Kontexte aus Orten, Mustern, Methoden. In diesem System erscheint Kant als frei, doch tatsächlich, wie der Titel sacht suggeriert, erweist sich Lampe als Meister Lampe, als Saboteur ohne bösen Willen. Hat Kant nur für Lampe gelebt, um ihm etwas zu beweisen, was der gar nicht wissen wollte? Das mag eine von der Quellenlage weit abgehobene Interpretation sein und Lampe ist so wenig Held des passiven Widerstands wie Melvilles „Bartleby“, sondern eine verletzte Seele. Doch kein Buch, kein Film kann das Zerren zwischen dem System Kant und Lampes Unpässlichkeiten besser darstellen, als Antje Herzogs Buch, welches eigentlich Konzeptkunst im besten Sinne ist.
Alle Abbildungen: Copyright Martin Mascheski/Edition Büchergilde