Versuche, zu verstehen und zu akzeptieren

Versuche, zu verstehen und zu akzeptieren


Oliver Tepel im Gespräch mit der Künstlerin Claire Morgan (*1980 in Belfast). Claire Morgans Ausstellung „Recent Lapses in Judgement“ ist noch bis 27. Oktober 2018 in der Galerie Karsten Greve, Köln zu sehen.

Ein toter Vogel durchwirbelt im raschen Flug eine kugelförmige Wolke aus schwebenden Blütensamen. Ein paar Schritte näher erweist sich die minutiös geordnete Wolke als Ansammlung kleinster Schnipsel Plastikmüll. Anderswo bilden Fliegen einen verschachtelten Kubus oder sie erheben sich, schwarmgleich in hastiger Unruhe. Doch die Bewegung verharrt, bis auf das sachte Pendeln der Nylonfäden, an denen sie befestigt sind. Claire Morgan wurde bekannt für ihre aufwendigen, dramatischen und stets auch trauernden, installativen Plastiken aus eigenhändig präparierten Tieren. Keines der Wesen starb für ihre Kunst, es sind Fundstücke, ob Opfer des Straßenverkehrs oder eines natürlichen Todes gestorben. Das Drama des Todes tragen sie stets in sich, es ist das Zentrum von Claire Morgans Kunst. Ihre Papierarbeiten begleiten diesen inneren Prozess der Auseinandersetzung. Andere Spezies, gar Gesten der Tierleibe, sind nach dem Verklingen der Genremalerei aus der Kunst verschwunden. Fast scheint es, sie stören. Dabei sind Tiere und ihr Leben, Menschen und ihr Umgang mit Tieren, Themen, die so unmittelbar wie komplex, so emotional wie diskursiv die künstlerische Arbeit nahezu fordern! Hier, wo die Wissenschaft längst ein neues Verständnis der Beziehungen und Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier einfordert, welches auf bornierte und pragmatisch verdinglichende, reduktionistische Perspektiven trifft, beginnt Claire Morgans Werk. Keine „beschäftigt sich mit“-Kunst oder referenzielle Verweiskunst, sondern notwendiger Ausdruck. Etwas Rares in der Kunst unserer Zeit.

Q – Vielleicht denke ich allzu sehr in Klischees, aber wenn ich mir Claire Morgan in ihrer frühen Jugend vorstelle, denke ich an ein Kind, welches nicht diese übliche, laute und manchmal etwas hysterische Begeisterung für Tiere hatte, sondern eher ein leises, zärtlicheres, vielleicht auch ernsthafteres Interesse. Waren sie so ein Kind? Und sind sie mit Tieren aufgewachsen?

CM – Ich vermute, meine Umgebung war etwas ländlicher als die der meisten Kinder und es lebten nicht so viele andere Kinder unmittelbar in der Nähe. Also spielten meine Schwester und ich für uns selbst im Freien.
Auf dem Spielplatz las ich lieber ein Buch, als mit anderen zu spielen und zu Hause war ich von Natur umgeben. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass man mir jemals die Namen verschiedener Arten lehrte oder dass wir da saßen, und wilde Tiere beobachteten. – Abbitte an meine Nächsten, falls dies tatsächlich doch passiert sein sollte!
Es gab viele Nutztiere um uns herum und ich hatte Haustiere – viele Katzen, Freigänger, die ich sehr liebte. Aber als Kind war ich anderen Lebewesen gegenüber nicht vorsichtig oder rücksichtsvoll genug. Ich erinnere mich, wie ich gescholten wurde, als ich keine Verantwortung für das Füttern meiner Katzen übernahm, sie aber zum Kuscheln mit ins Bett nahm. Ich denke, ich war halt ein typisches Beispiel für einen Menschen unserer Zeit, nahm was mir angenehm ist, und ignorierte das weniger Unterhaltsame, ungeachtet der langfristigen Konsequenzen!
Ich erinnere mich deutlich, wie meine Schwester und ich, als wir noch sehr jung waren, die Rinde einer jungen Birke in unserem Garten wegschälten, bis der ganze Stamm völlig nackt war. Als meine Mutter kam, fand sie uns, kichernd, wie wir die zerrissene Rinde gleich Peitschen gegen die Seiten des Baumes schlugen. Wir hatten keine Ahnung, dass wir etwas töteten, aber die Reaktion meiner Mutter machte uns die Realität ziemlich klar. Meine Eltern bemühten sich, den Baum zu retten, indem sie ihn in Frischhaltefolie einwickelten. Ich denke, da habe ich zum ersten Mal nachdrücklich verstanden: die natürliche Umwelt ist keine Selbstverständlichkeit, und es ist grotesk, ihr unnötig Schäden zuzufügen.

Claire Morgan, The Vanity of Supposing Significance, 2017. Zwei Pfauen (Taxidermie), Plastikfolie, Nylonfaden, Blei, 350 x 251 x 299 cm. © Claire Morgan, Courtesy Galerie Karsten Greve St. Moritz Paris Köln

Q – Wundern sie sich darüber, wie wir unsere Beziehungen untereinander und die Beziehungen zu anderen Spezies mit zweierlei Maß bewerten?

CM – Ich bin von der Vorstellung verblüfft, dass unsere anthropozentrische Einstellung eine allgemeingültige Tatsache, sozusagen das Resultat der Reflexion über das Leben sein soll. Wir unterscheiden uns offensichtlich von anderen Spezies, da wir den Planeten beherrschen, und den damit verbundenen negativen Auswirkungen. So ist es doch lächerlich, zu sagen, wir befänden uns in einer Position der Überlegenheit. Ich glaube von dem, worauf Sie hinaus wollten bin ich nun etwas abgekommen, aber denke, dass es irgendwie zusammenhängt.
Aber ja, oft wundere ich mich über dieses Messen mit zweierlei Maß, anderen Spezies gegenüber, aber auch untereinander. Es ist schrecklich, dass jemand die Schmerzen anderer Wesen, ob menschlich oder nicht, nicht wahrnimmt oder sich sogar daran ergötzt. Aber es scheint zugleich unmöglich, an der heutigen Konsumgesellschaft teilzunehmen, ohne ein gewisses Maß an Schuld an schrecklichen Taten gegenüber Menschen, Tieren und dem Planeten zu tragen. Hier ein anderes Maß anzulegen macht es so viel leichter, die Augen zu verschließen – und natürlich ist das etwas, womit ich zu kämpfen habe, weil ich Schuld habe.

Q – Geht es hier nicht letztlich um Fragen des Todes und der Sterblichkeit?

CM – Die Frage der Sterblichkeit steht im Mittelpunkt meiner Arbeit und wird es vielleicht auch immer bleiben.
Meine Mutter starb sehr jung, sie war 37, und meine Schwester und ich waren 9 und 11. Ich habe es in Interviews nicht oft erwähnt, aber wenn ich ehrlich bin, hatte das zweifellos einen tiefgreifenden Einfluss auf mich und prägte die Motivationen und Ängste hinter meiner Arbeit.
Diese enge Begegnung mit dem Tod hat ganz offensichtlich die Richtung meiner Arbeit beeinflusst, doch zudem ging ich während meiner Jugend davon aus, selbst mit 37 tot zu sein. Vor ein paar Wochen war mein 38. Geburtstag, ein sehr seltsames Gefühl. Diese Angst, dass mein eigenes Leben sehr kurz sein könnte, ließ mich viele Jahre lang unglaublich hart arbeiten, zu Lasten anderer Bereiche meines Lebens. Ich wollte nicht das Gefühl haben, dass ich die mir gegebene Zeit verschwendet hätte. Natürlich kann ich mittlerweile den Fehler darin sehen, es ist von großer Bedeutung innezuhalten, um nachzudenken oder zu entspannen. Aber ich habe immer noch Schwierigkeiten mit dem Gedanken, Zeit zu verschwenden.
Ein paar Tage nach dem Tod meiner Mutter griff der Hund des Nachbarn meine Katze an, die dann auch starb. Ich sehe die Gefahr, diese Ereignisse zu überinterpretieren, aber ich sehe sie als Teil der sich immerfort entwickelnden Geschichten und Umstände, die uns zu dem formen, was wir sind.

Q – Mitunter frage ich mich, warum viele Menschen mit einer tiefen, emphatischen Beziehung zu Tieren anderen Menschen fern sind. Ja, ich meine durchaus Leute, die dem Bild der „Crazy Cat Lady“ entsprechen, aber nicht ausschließlich. Viele würden dieses Phänomen wohl als Akt der Kompensation sehen. Aber mir scheint wahrscheinlicher, dass es um andere Sichtweisen geht, vielleicht um die Fähigkeit, die anthropozentrische Perspektive verlassen zu können. Wie sehen sie das?

CM – Zuerst muss ich wohl gestehen, dass es mir stets ein veritables Lebensziel schien, eine „Crazy Cat Lady“ zu werden und mit fünf Katzen befinde ich mich wohl auf einem guten Weg! Wie ich bereits erwähnt habe, erscheint mir die anthropozentrische Einstellung, dass wir anderen Arten fraglos überlegen sind als arrogant und lächerlich. Sicher, aus einer evolutionären Perspektive nehme ich an, dass jede Spezies einen eingebauten Überlebensinstinkt hat, aber wir verschließen uns der Vorstellung, nichts weiter zu sein, als eine von vielen Tierarten. Ich glaube es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass es für unser eigenes Überleben als Spezies entscheidend sein könnte, diese Vorstellungen von Überlegenheit und Unfehlbarkeit hinter uns zu lassen.
In gewisser Weise diktiert einem die aufrichtige Empathie für Tiere fast zwangsläufig eine Distanz zu anderen Menschen, wie ja unsere ganze Kultur auf Trennung und Herrschaft basiert. Selbstgefälligkeit und Ablehnung sind machtvoll.

Claire Morgan, Nipple, 2012. Schmeißfliegen, Distelsamen, Nylonfaden, Blei, Acryl, 230 x 18 x 18. © Claire Morgan, Courtesy Galerie Karsten Greve St. Moritz Paris Köln

Q – Sie sprechen in einem Artist Statement auf Ihrer Webseite von einer generellen Leere im Leben und, wenn ich Sie richtig verstehe, bieten Sie zwei Konkretisierungen des Begriffs dieser Leere an: zum Einen „fehlende Bedeutung“ und zum Anderen: „Sterblichkeit“. Früher habe ich Ihre Arbeit stets zum Thema der Sterblichkeit in Bezug gesetzt. Es schien mir als Meditation über die Sterblichkeit. Aber mehr und mehr verstand ich Ihr Werk als Aufruhr gegen den Skandal des Todes und in symbolischer Form, vor allem die Installationen, als eine Art Zeitmaschine: eine Ode an das Leben.
Könnten Sie diese Perspektive teilen?

CM – Es war für mich absolut eine Meditation über die Sterblichkeit, aber wissen Sie, bis zu einem gewissen Grad, kann ich hier nur Vermutungen anstellen. Damit meine ich, dass sich meine Ideen visuell manifestieren und es ist immer eine Art Analyse im Nachhinein, wenn ich sie beschreibe, beschränkt von meinem Wissen und meiner Fähigkeit, philosophische Konzepte zu verbalisieren. Manchmal hat man eine Idee, warum man etwas gemacht hat und ist dann geneigt, bei dieser Erklärung zu bleiben, als wäre es die Wahrheit. Das kann zur Dogmatik führen und genau das möchte ich vermeiden. Ich denke, non-verbale oder nicht-lineare Erfahrung, Kommunikation und Verständnis sind enorm wertvoll auch wenn mich das nicht dazu bringt, hier weniger zu sprechen.
Ich liebe den Gedanken, meine Arbeit als Aufruhr gegen den Skandal des Todes zu verstehen. Ja, vielleicht ist es das viel eher als eine Meditation. Es passt mehr zu meinen Bauchgefühlen und meiner Angst. Ich wäre gerne fähig zur friedlichen Meditation über die Natur des Todes, aber ich bin noch fern davon. Es ist vielleicht auch weniger eine Ode an das Leben, als mehr eine Ode an Leben und Tod. Ich denke, es ist keine gute Idee, die beiden zu trennen. So erforsche ich Orte irgendwo zwischen jenem fernen Punkt der gelassenen Akzeptanz und dem absoluten Terror des Unbekannten.

Q – Ein Grund, warum ich auf diese Idee der Ode an das Leben kam, war die Bedeutung der Bewegung in Ihrer Arbeit. Bewegung ist natürlich Leben.

CM – Ist Bewegung Leben? Ist Bewegung nicht auch Tod? Ich komme immer wieder auf den Gedanken zurück, dass Tod und Zeit austauschbar sind. Bewegung ist Zeit. Und so sind Leben und Tod untrennbar.

Q – Das erklärt mir viel über ihre Kunst, deren Entstehen mir Rätsel aufgibt. Sie selbst erwähnen in der Beschreibung Ihrer Kunst die Taxidermie, den Prozess des Enthäutens. Und ich frage mich, wie kann man diese Arbeit, ich wage es kaum, Arbeit zu nennen, verrichten? Ich nehme an, die meisten Tierpräparatoren machen es, indem sie die Kreatur objektivieren, aber ich denke, das ist nicht Ihr Weg. So stelle ich mir einen zutiefst verwirrenden Strom von Emotionen vor – trifft es das?

CM – Ja, „ein zutiefst verwirrender Strom von Emotionen“ ist ein guter Weg, es zu beschreiben. Das ist der Grund, warum der Enthäutungsprozess jetzt ein integraler Bestandteil meines Prozesses ist. Der Akt, die physische Natur eines Dinges, das lebte, aber nicht mehr lebt, unmittelbar zu erforschen. Das ist beides, faszinierend und sinnlos. Es vermag, mich zu verstören und wenn ich offen bin, kann ich davon lernen, aber das Ungreifbarste aller Dinge ist dann schon lange verschwunden. Gewalt und Sinnlosigkeit sind in meiner Arbeit so wichtig, weil sie unvermeidliche Aspekte des Lebens sind. Ich hatte das Gefühl, dass meine Skulpturen irgendwie einen Teil dieser Wahrheit verleugneten und so antworten meine Arbeiten auf Papier auf diese Sorge.

Claire Morgan, The Unbearable Lightness, 2012, Aquarell, Bleistift, Reste von Tierkörperpräparation auf Polyester, 180 x 90 cm. © Claire Morgan, Courtesy Galerie Karsten Greve St. Moritz Paris Köln

Q – In diesem Sinn erscheinen mir jene Arbeiten als Möglichkeit, mit diesen Emotionen umzugehen, mit der Gegenwart von Leiden und Tod. Neue Arbeiten auf Papier wie „Partial Facsimile“, „Soon“ oder „Snake“ faszinieren mich, da sie auf mich wie Tänze wirken, Rituale, die eine Verbindung schaffen, aber auch den Abschied ermöglichen. Wenn ich kunsthistorische Referenzen benennen müsste, erinnern mich diese Arbeiten an einige prähistorische Höhlenmalereien, genauer: Sie geben mir die Vorstellung, dass Menschen in einer harten Welt, fern unserer Zivilisation die gleiche Leere gespürt haben könnten wie wir in unserer industrialisierten Welt. Oder sehen Sie die Leere als einen Aspekt moderner Zivilisation?

CM – Ja, diese neuen Arbeiten auf Papier sind wie Tänze. Der Prozess ist performativ, wenn auch bis jetzt eine einsame und sehr private Performance. Es sind Versuche, zu verstehen und zu akzeptieren.

Die Leere war immer da. Es ist der menschliche Zustand. Die buddhistische Philosophie spricht enorm präzise von der Unzufriedenheit, die wir während unseres Lebens empfinden werden und bietet klare Auswege, obwohl, was anscheinend unvermeidlich ist, die Anweisungen inmitten der religiösen Dogmen und Rituale verloren gehen. Die Sehnsucht, über diese Leere hinweg zu blicken, mit vielfältigen Mitteln veränderte Bewusstseinszustände zu erkunden, ist sehr alt. Obschon es nicht undbedingt den Anschein macht, verschlimmert unsere Gesellschaft auf ihr Weise die Gefühle der Leere unmittelbar.

Q – Im Gegensatz zum Zitat von David Foster Wallace, das ich auf Ihrer Website las, würde ich Ironie nicht als das Lied des Gefangenen sehen, der lernte, seinen zu Käfig lieben, sondern als das Lied eines Menschen, dem es an Ausdrucksmitteln mangelt. Ich denke, Ironie wiederholt immer, sie scheint mir eine Entschuldigung dafür, nichts Neues schaffen zu können. Ich würde sie demnach eher als Ausdruck der Hilflosigkeit sehen, als ein Gefängnis an sich. In Ihrer Kunst sehe ich Dinge, die nicht auf Neuinterpretationen des Gegebenen fußen.
Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Arbeit, oder vielleicht eine bestimmte Idee, die Teil Ihrer Arbeit wird, Sie aus dem Käfig befreit?

© Claire Morgan, 2018. Foto: Lisa Busche

CM – Der Gefangene, der seinen Käfig lieben lernte, und das Lied von jemandem, dem es an Ausdruck fehlt. Ich denke, vielleicht sind das auf einer bestimmten Ebene die gleichen Dinge. Zumindest sehr eng verbunden. Etwas nicht akzeptieren und etwas nicht können – die Trennlinie ist nicht so klar.
Auf Nummer Sicher zu gehen, kann oberflächlich einfacher erscheinen, und manchmal ist das sogar notwendig. Daneben haben einige Aspekte der heutigen Gesellschaft einen tiefgreifenden negativen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit als Ganzes.
Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, vielleicht bringt mich manchmal eine Idee oder ein Gefühl fast dazu, für einen Moment von diesem Käfig befreit zu sein. Aber in dem Moment, in dem du anfängst zu intellektualisieren, ist es verloren.

Artikelbild: Claire Morgan, The Vanity of Supposing Significance, 2017 (Detail)


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