Ella Münter is a scream!

Ella Münter is a scream!


Oliver Tepel über „Gabriele Münter. Malen ohne Umschweife“ im Museum Ludwig, Köln, bis 13.1.2019

Nein, ihr druckgraphisches Œuvre steht nicht im Mittelpunkt der aktuellen Gabriele Münter Retrospektive des Museum Ludwig. (Was beim Titel „Malen ohne Umschweife“ auch nicht zu erwarten ist.) Und doch erobert sich jene technisch reproduzierbare Kunst auf subtile Weise das Zentrum des Hauptraums im Souterrain. Dort, linker Hand, eine Wand einfordernd: das linolgeschnittene Portrait einer Aurélie aus dem Jahr 1906, in vier verschiedenen Farbvariationen, jede einzeln gerahmt. Wir sehen Pop Art vor ihrer Zeit und staunen. Ist Andy Warhol wirklich ein Schrei, wie David Bowie einst sang, oder vielleicht doch nur ein Gähnen im Licht der formenreichen Welt der Gabriele Münter?

Gabriele Münter, Kleines Mädchen auf einer Straße, St. Louis, Missouri, 1900 © Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Gabriele Münter hatte das Glück, 1877 in eine aufgeschlossene und wohlhabende Familie hineingeboren zu werden und bleibt doch vom Schicksal nicht verschont. Mit neun verliert sie ihren Vater, mit 20 ist sie Vollwaise. Noch zu Lebzeiten der Mutter begann sie den Besuch in der Damenkunstschule des jungen Malers Willy Spatz, eine wahrscheinlich klassizistisch angelegte Ausbildung, noch fern der erwachenden, selbstbewussten Moderne. Ihre, mit selbstbewusster Linie, seit Kindertagen angefertigten Zeichnungen, entsprachen kaum den Vorstellungen ihrer Lehrer, was Münter zu lernen suchte, fand sie in Düsseldorf keinesfalls und verließ bald die Stadt. Allerdings führt ihr Weg in eine Richtung, in die es auch viele Absolventen der Düsseldorfer Malerschule zog: 1898 bereist sie für zwei Jahre die USA, das Land ihrer Eltern. Diese hatten dort geheiratet aber als junges Paar unter politischem Druck das Land verlassen, des Vaters Zertifikat als Zahnarzt verhielf ihm in Deutschland zu Wohlstand. Nach dem Tod der Mutter machen sich Gabriele Münter und ihre ältere Schwester Emmy auf den Weg, die Familie der Mutter und das weite Land kennenzulernen. Doch statt gleich den düsseldorfer Malern begeistert von den Landschaften und dem Licht zu malen, beginnt sie zu photographieren, vornehmlich Menschen.

Die Ausstellung im Museum Ludwig gibt einen Einblick in dieses photographische Werk, welches eigentlich ganz für sich zu einem Eintrag in die Künstlerlexika gereichen würde, zumindest Münters Portraitaufnahmen und Bilder aus dem alltäglichen Leben. Deren natürliche Unmittelbarkeit erstaunt ebenso wie der Blick der Künstlerin für Charaktere. Zugleich mag sich beim Anblick der von Leiden oder Strenge gezeichneten Gesichter der Eindruck einstellen, dass diese Menschen in den USA dem Leben zugewandter waren, als die daheim. Ob Gabriele Münter das auch so empfunden hat, bleibt ungewiss.

Gabriele Münter, Kahnfahrt, 1910, Milwaukee Art Museum, Gift of Mrs. Harry Lynde Bradley © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Efraim Lev-er, © Artists Rights Society (ARS), New York/ADAGP, Paris

Doch auch zurück in Deutschland wartet ein aufregendes Leben. Die Künstlergruppe „Phalanx“ bringt sich in München inmitten der aufstrebenden Avantgarden in Stellung. Auch sie bieten in Malkursen Künstlerinnen Alternativen zum Kunststudium, von welchem Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen sind. Hier trifft Gabriele Münter auf ein ihren Vorstellungen von moderner Malerei offenes Umfeld, hier studiert sie „Plein Air“ Malerei. Münter und ihr Lehrer Wassily Kandinsky werden bald auch privat ein Paar. Der Rest ist Geschichte – nicht zu ihrem Guten, denn bis heute klettet die Kunstgeschichte ihren Namen an den des großen Aufbrechers in die Abstrakte Malerei. Münter im Schatten des Genies, eine Perspektive, die bald so weit ging, es als ihre größte Leistung zu bewerten, Werke des Ex-Mannes und andere Frühwerke der zum „Blauen Reiter“ mutierten „Phalanx“ aufzubewahren und irgendwann dem Münchner Lehmbachhaus zu stiften. Im Lehmbachhaus nahm auch diese Ausstellung hier ihren Anfang und sie zeigt: Münters Kunst und die Kandinskys verbindet wenig. Warum also immer dieser Schatten über ihrem Werk?

Gabriele Münter, Haus in Schwabing, 1911 Milwaukee Art Museum, Gift of Mrs. Harry Lynde Bradley © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: P. Richard Eells, © Artists Rights Society (ARS), New York/ VG Bildkunst Bonn

Man könnte einen tatsächlichen Schatten über ihren frühen Landschaftsbildern vermuten. Von späten Impressionismus geprägt, fehlt ihnen doch die Faszination für das wimmelnde Leben der Großstadt und vor allem die sommerliche Lebensfreude der französischen Vorbilder. Selbst in ihren offensichtlich sommerlichen Szenarien scheint es niemals wärmer als 22 Grad, von einem Flirren der Luft ganz zu schweigen. Auch im gleißend hellen Tunis verliert sich der Rausch des Lichts und der Hitze im matten Weiß gekalkter Hauswände. Nein, Gabriele Münter ist keine Malerin der Euphorie, der Lust, des Rauschs. Der Park in Murnau, eine beklemmende Kulisse – noch Jahre später wird sie Paris als eine gottverlassene Abbruchlandschaft im kargen Winter darstellen. Dabei sind es in ihren Landschaften mit fernen Dörfern gerade die herbstlichen und winterlichen Lichtverhältnisse, welche den Schritt zu einer neuen, expressiven Stilistik mit ihren klaren Flächen beleuchten. Das Künstlerehepaar Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky inspirieren oder ermutigen Münter und Kandinsky zum stilistischen Aufbruch. Doch was Münters Faszination für die Momenthaftigkeit zu intensiver, explizierter Gestalt verhilft, bringt Kandinsky alsbald in die Innenschau. Hier kommt Rudolf Steiner ins Spiel, eine dieser offenbar faszinierenden Wunderheiler-Gestalten, die inmitten einer im Technischen, wie Wissenschaftlichen rasant aufstrebenden Kultur, ihre Ideen von einer neuen Innerlichkeit kundtun – wie bei so vielen jener Heilslehren ist auch bei Steiner der Antisemitismus inklusive. Trotz ihrer Distanz zum Toben der Zeit, mag Gabriele Münter diesem Mann nicht folgen, sie bleibt bei den Dingen. Dies ist der Schatten, der auf ihr Werk fällt, das Fortschrittsbild der Moderne mit seiner Fixierung auf die reine Abstraktion. Die zum Teil weit nüchternere Farbenlehre mancher Hard Edge- oder Farbfeld-Maler der späten US geprägten Moderne verwischte diese Untiefen, welche fern aller Wissenschaftlichkeit den Weg nicht in die Form an sich, sondern ins vermutete Seelenreich antreten.

Gabriele Münter, Abstrakt, 1914 Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München

So waren die mannigfaltigen Impulse, welche die geistige Situation um 1900 prägten, nur teilweise akademisch, oft eher experimentell und in vielerlei Hinsicht verworren. Blicken wir auf Hilma af Klint, die Pionierin der abstrakten Malerei. Ihr Werk wurde für Jahrzehnte, vorgeblich aufgrund ihrer Nähe zu jenen, zum Glück oft bald als falsch ausgemachten Denkschulen innerhalb der Kunstgeschichte verdrängt, bis zu der 1987 von Maurice Tuchman in Den Haag kuratierten Ausstellung „Das Geistige in der Kunst – abstrakte Malerei von 1890 bis 1985“. Tatsächlich sah af Klint ihr Schaffen noch okkult esoterischer als Kandinsky, dessen von Steiner und der Theosophie beeinflusste Weg in die Abstraktion ihm Weltruhm verlieh. Aber reichte das als Grund, ihm den Titel des Ersten zuzubilligen? Oder war da nicht auch Kandinskys Ego, sein Wille, das erste, rein Abstrakte Werk geschaffen zu haben und seine gute Vernetzung, diese Falschmeldung zu kolportieren? Und nicht zuletzt: Wusste er überhaupt, daß Hilma af Klint ihm zuvorgekommen war?

Doch wir driften ab und schon wieder ist er da: Der Schatten…
Was lässt sich tun?

Wege in die Abstraktion beschritt Gabriele Münter, um also endlich zu ihr zurückzukommen, ebenso, verblieb aber im Abstrahierenden, wo viele Zeitgenossen und Weggefährten eben die reine Form suchten. Sie blickte sich auch noch in der Welt um, als die radikalste Avantgarde nur noch ins Innere stierte. Was Gabriele Münters vielfältiges Werk also auszeichnet (man ist geneigt zu sagen: „stattdessen auszeichnet“), ist seine Ungebundenheit, recht fern von Dogmen und Definitionen. Das Reisen wird ihr Leben und künstlerische Laufbahn begleiten und prägen. Ob Holland, Tunesien, Italien oder Frankreich, sie finden ihr Echo im Werk der Künstlerin, die mit Vorliebe die sie umgebende Welt malte. Doch sind es nach der Trennung von Wassily Kandinsky zunächst vor allem vermittelte Reisen, Museumsbesuche, Kunstwerke anderer Kulturen, ja ganz allgemein jene Kunstwerke, die nie kunsthistorische Würdigung erfuhren, welche sich in ihrer Kunst widerspiegeln.

Installationsansicht, Gabriele Münter. Malen ohne Umschweife Museum Ludwig, Köln 2018 © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Jonas Klein

Tatsächlich aufregend sind manche ihrer Beschäftigungen mit außereuropäischen Kulturen oder mit der sogenannten Volkskunst. Stilleben entstehen, die das Innige der religiösen Objekte oder Motive festhalten. So die zwischen Heiligenbild und Krippenszene vermittelnden Stilleben der Jahre 1911 und 12, Schnitzfiguren und Madonnen aus ihrer Sammlung sind ebenso erhalten wie eine Heilig-Geist-Taube aus Weichholz, die in mehreren Stilleben variiert wird. Münter malt Masken, deren zum Teil schwarze Farbgebung aus der Ausgewogenheit des Münterschen Farbspektrums hervorsticht, ebenso wie das bald Yves-Klein-artige Blau eines Dämonen aus Indien, welcher die Aufmerksamkeit vieler Besucher auf sich zieht. Just daneben, eine in weit gedämpfteren Tönen gemalte Szene aus Indien, zwei Personen und eine Giraffe, getrennt von einem, den gesamten Bildraum teilenden Baumstamm. In ihrem Mut in Gestaltung und Farbgebung berührt dieses Werk die ungeschriebenen Grenzen zwischen „Gelungen“ und „Missglückt“ oder „avantgardistisch“ und „grotesk“, wie manche Werke, die heute der von Jim Shaw erstmals (allerdings noch halb ironisch) gewürdigten Flohmarktkunst zugerechnet werden. Es ist wirklich ein Werk fern der Regeln. Münter untersucht auch Kinderzeichnungen nach ihrer Beziehung zur Vergröberung der Form in der Moderne und ihre „Lauensteiner Landschaft mit roten Kindern“ nimmt sich dem heute nur beklommen oder ironisch verbrämten Tabu der Moderne, der Naiven Malerei, an. Auch mit ihren in so wunderbar klarer Linienführung gezeichneten Kinderbüchern und Spielzeugen beschreitet sie Grenzen.

Gabriele Münter, Sinnende II, 1928 Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Lenbachhaus, München

Ihre Radikalität war nicht die der Abstraktion. Münter malt die Welt. Die Künstlerin als eine Flaneurin der Moderne. Das war so gesellschaftlich nicht vorgesehen, wie bereits die ungelenk wirkende, weibliche Form von „Flaneur“ andeutet. All das verraten bereits ihre frühen pittoresken und dennoch experimentell den Impressionismus beschließenden Landschaftsbilder und natürlich „Aurélie“. An zwei Stellen innerhalb der Ausstellung, sowie exklusiv im hintersten Raum, werden Ausschnitte von Stummfilmen gezeigt, die Szenen sind allesamt sehenswerte Beispiele großer Filmkunst: Paul Wegeners „Der Rattenfänger von Hameln“ mit dem Golem-Darsteller selbst in der Hauptrolle und Stop Motion animierten Ratten, Wolfgang Junghans‘ und Waldemar Bonsels‘ „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“, welcher sehr viel von der Macht der Sprache über die Bilder lehrt und die melancholische Zugfahrt in der experimentellen neuen Sachlichkeit von Paul Czinners „Fräulein Elise“. Ja, auch Gabriele Münters Werk kommt im Stil der Neuen Sachlichkeit zu neuer Blüte. Sie entsagt meist den grimmigen Politisierungen oder gesellschaftskritischen Perspektiven ihrer männlichen Zeitgenossen. Vielmehr malt sie Menschen, eine zarte Erotik ist erstmals seit dem Frühwerk in den Bildern präsent. Nehmen die „Sinnende“ von 1928 und die „Zuhörerinnen“ aus der selben Zeit mit ihren graphisch reduzierten und auf diese Weise befremdlich abstrahierenden Formen nicht den späten Balthus vorweg? Sind es diese spielerischen Metamorphosen, wie sie auch dem Filmausschnitt des so unfassbar allegorischen und poetischen ersten „Peter Pan“ von Herbert Brenon zueigen sind? „Wieviel größer ist der Genuss im Kino, als im Theater“, zitiert der Katalog Gabriele Münter. Wie Recht sie hat. Eine moderne Künstlerin ihrer Zeit. Manche hatten Steiner, Münter hatte das Kino und die Welt. Doch damit ging es ihr wie anderen, noch weit bekannteren Namen. Tritt man aus der Ausstellung heraus, kommt man in einen kleinen Raum mit Werken, meist Frauenportraits von Kees van Dongen, Henri Matisse, Marie Clementine Valadon, Georges Braque und Amedeo Mogdiliani. Auch Picassos „Brasserie à Montmarte“ von 1901 hängt dort. Selbst an Picasso raste die Zeit im Namen des Abstrakten vorbei, meinte ihn abgehakt zu haben, irgendwann, spätestens nach dem zweiten Weltkrieg. Es ist an uns, diese Moderne neu zu bewerten. Das Abstrakte war nicht die alleinige Zukunft, die Vielfalt und Offenheit Gabriele Münters weist weiter, lässt Verstiegenheiten und Ideologien hinter sich. Gabriele Münter is a scream – so still ihre Werke, so nachhaltig rütteln sie an den altbekannten Wertungen der Kunstgeschichtsschreibung. Wir müssen nicht klagen, wie schwer es ihr gemacht wurde, wie es so oft in der, die Ausstellung ergänzenden Filmdokumentation geschieht. Gabriele Münter mag ein Opfer gewesen sein, aber vor allem war sie in der Kunst eine Heldin. und sie muss deswegen nichtmal in das Korsett der so oft bemühten „starken Frau“ gepresst werden. Sie war einfach eine bedeutende Künstlerin, gegen viele Regeln, letztlich auch jenen der Avantgarde. Es ist an uns dies zu benennen, es ist an uns, die Großen von falschen Schatten zu befreien und Andere nicht zu vergessen, wie etwa Marie Ellenrieder, 1813 die erste Studentin an der Münchner Kunstakademie, was der Film über Gabriele Münter leider unterschlägt.

Ein Nachtrag: etwas versteckt hängt in der Ausstellung ein Erntebild aus dem Jahr 1942. Was haben die dort zu sehenden, süddeutschen Erntehelfer wohl miteinander gesprochen, hörten sie abends dem Volksempfänger zu? Das Unterkühlte, welches für mich fast alle münterschen Landschaften prägt, ist hier ebenfalls zu spüren, eine kalt wärmende Spätsommersonne scheint auf idyllische, zugleich abweisende Felder und auf gesichtslose Menschen. Klein, im Katalogseitenmaß reproduziert, entfalten die parallelen, mit der Harke gezogenen Linien eine taumelnde Angespanntheit. Ein Wunschbild mit der Last der inneren Emigration? Noch lange nach dem Ausstellungsbesuch blieb mir diese Spannung aus Idylle und Schrecken, ob von Gabriele Münter einst intendiert oder nicht, präsent.

 

Artikelbild: Gabriele Münter „Aurélie“, 1906 Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Lenbachhaus, München