Medardo Rosso

Medardo Rosso


Im Wandel des Lichts – Oliver Tepel über Medardo Rosso im Museum voor Schone Kunsten, Gent, bis 24.6.

Keine Erscheinung, keine Regung, die nicht in ihrer Momenthaftigkeit betrachtet werden muss, soll sie nicht als eingefrorene Grimasse ihrer Selbst erscheinen. So könnte ein Impressionist argumiert haben oder, in Italien, ein Futurist möglicherweise. Doch was für die künstlerische Paxis angeführt werden könnte, mag ebenso für kulturelle Strömungen gelten, sie werden alsbald festgeschrieben zu formelhaften Grotesken ihrer selbst oder vergessen.

The concierge, 1915 (1883-1884) Courtesy Amedeo Porro Fine Arts, Lugono-Londen

So kommt es, daß die Frage nach der frühen Moderne in Italien meist mit dem Verweis auf just eben jenen Futurismus abgehandelt wird, insbesondere, wenn diese Frage in Deutschland gestellt wird. Dabei besingt gar eine weltbekannte Oper, Puccinis „La Bohème“ nicht etwa die Pariser Hipsterszene zur vorletzten Jahrhundertwende, sondern jene mailänder Gruppe aus Autoren, Musikern und bildenden Künstlern, die unter den Namen „Scapigliatura“ wenn, dann am ehesten Freunden moderner Poesie noch ein Begriff ist. Dabei war es, ja genau, die italienische Bohème. Der bürgerlich fundierte, antibürgerliche Impuls jener Gruppe, ihr Kunstverständnis welches den Rebellen einforderte, der eben keine Trennung zwischen Werk und Leben vollzog, sprach den jungen Maler Medardo Rosso an, der just von der Kunstakademie in Brera geflogen war, offenbar nachdem er gegenüber einem anderen Studenten handgreiflich wurde, der seine Petition für lebende Modelle in den Zeichenklassen nicht unterzeichnen mochte.
Doch neben dem Lebensgefühl mit seinem Sinn für Aufruhr, düstere, leidenschaftliche Romanzen und sinnliche Intensität, zeigte die Malerei der Scapigliatura Künstler ein enormes Interesse an der Darstellung des Momenthaften und dessen Problematiken, wie von den klebenden Fäden immenser Spinnweben gehalten, erscheinen die oft aquarellnen Farbflächen Luigi Concolonis, welche sich dem Blick mutmasslich nahezu zufällig, zu abbildenden Darstellungen zusammenfügen, bis ein Windhauch die vibrierende Unschärfe der Darstellung vollends in schwingende Fäden auflöst oder die verwaschene Qualität der Portraits von Daniele Ranzoni, der, angeregt durch den experimentellen Stil des späten Da Vinci und vielleicht inspiriert von frühen unscharfen Photographien, alle Randbegrenzungen auflöst und doch die Mimik seiner schwarzäugigen Sujets sensibel einfängt. Im Bereich der Plastik verinnerlicht Giuseppe Grandi die Ideen der Scapigliatura und überholt in seiner Radikalität der Darstellung durchaus den weit berühmteren Rodin. Seine „Pleureuse“ von 1875 setzt Maßstäbe hinsichtlich des Verschmelzens von Form und Ausdruck und übertrumpft zu jenem Zeitpunkt auch die Bereitschaft zum Experiment seiner Malerkollegen. An Grandi kommt in jenen Jahren niemand, der mit seinem Werk vertraut ist, vorbei, ohne sich nicht mit ihm messen zu müssen. Und genau das hat Medardo Rosso im Sinn!

Medardo Rosso in seinem Atelier (private Sammlung)

Die Ausstellung im Museum voor Schone Kunsten versucht keinen retrospektivischen Überblick über Rossos Werk, sondern will vielmehr seine Arbeitsweise, ja sein künstlerisches Anliegen darstellen. Dabei gibt sie umgehend den Eindruck, man beträte ein Archiv. Tischsockel, die ihrem Namen alle Ehre machen, manchmal mit einer Glashaube als Vitrinen fungierend, der Vitrinendeckel eines Archivierungsschranks und gar ein Vitrinenschrank im Stil eines eleganten Wohnzimmermöbels gestalten den formalen Rahmen einer vielteiligen Ordnung, die zudem Photoreproduktionen in Wandgrösse, sowie gerahmte Originalabzüge enthält. Den flüchtigen Blick erstaunt die geringe Varietät der gezeigten Skulpturen. Zum einen sind es oftmals Portaits, zum anderen erscheinen sie in verschiedener Materialität. Denn um 1906 stellte der 1858 geborene Rosso seine Arbeit als Kreateur neuer Werke ein. Längst lebt er in Paris, hat sich mit Rodin angefreundet und dessen Lob erfahren, als der aber bei einer Gelegenheit kein „Like“ Häkchen setzte, entfreundete sich Rosso umgehend. Vielleicht nicht zu unrecht, denn Rodin erfährt bis heute die Lobpreisung für Leistungen, die letztlich erst Rosso wirklich zu bringen versuchte: der Moment, die Impression, wie kann sie erscheinen in gegossener Bronze? Medardo Rosso löst in seinen frühen Arbeiten zusehends die Formen auf, aber bald macht es den Eindruck, dass er den umgekehrten Weg einschlägt. Er beginnt offenbar sein Material als eine bewegliche, zufällig strukturierte Urmasse zu begreifen, wortwörtlich zu begreifen, denn derart wirkt der von seinen Händen geformte Ton, aus welchem sich dann, als wäre es ein zufälliger Prozess organischer Substanz, Strukturen lösen. Gleich einer Wolkenformation, in welcher der Betrachter plötzlich ein Antlitz in erschreckender Präzision erkennt, bis es alsbald in seinen Konturen verwischt und wieder vollends verschwindet, so erscheint schon „La Portinaja“ (Die Concierge) von 1883. Tatsächlich gelingt Rosso beides, die ausserordendliche Prägnanz der Form, welche Individualität und Befindlichkeit seines Models abbildet und eine Darstellung des Verschwindens jener prägnanten Form, ein Nachbild in der bald wieder opaken Masse. Dieser Eindruck ist so faszinierend, wie erschreckend auch, denn tatsächlich bleibt das Bild ja konstant. Wahrscheinlich war Rosso der Erste, welcher die abbildende Plastik so weit führte und die Radikalität seines Werkes bleibt bis in die Gegenwart spürbar. Aber auch das Versagen der Form, ja des Materials am Momenthaften. Medardo Rosso hat dies ebenfalls so empfunden, als er nach 1906 keine neuen Sujets mehr produzierte, begann er intensiv mit verschiedenen Materialien zu experimentieren. Viele seiner Werke sehen wir in variierten Materialien: als Bronze, in Gips, patiniertem Gips oder als Wachs auf Gips, vom dunklen bronzeton über gräuliches gipsweiß bis zum honiggelben Wachsüberzug erstreckt sich die Farbpalette. Die Farbigkeit beeinflusst unmittelbar die psychische Wirkung der Plastik, eine Binsenweisheit, das mag sein, aber zugleich in ihrer Bedeutungsweise selten genug erfasst. Medardo Rosso betrieb in seinem Pariser Studio eine eigene Giesserei, erledigte, anders als viele seiner Kollegen, den kompletten Prozess von der ersten Form bis zum Guss eigenhändig. Vielleicht war es eine Erkenntnis während des Herstellungsprozess, daß die Plastik in ihren verschiedenen Stadien (denn seine Materialkombinationen dokumentieren eigentlich die Produktionschritte bis zum Guss) die unterschiedlichsten Assoziationen und Wirkungen auslöste.

Madame Noblet, ca. 1926 (1897) (Collection of Ricci Oddi Modern Art Gallery, Piacenza

Letztendlich aber galt Medardo Rossos eigentliches Interesse der Wirkung des Lichts. Der Moment, der, so präzise wie möglich eingefangen, doch zu einer Ewigkeit erstarrt, nur das Licht in seinem Wandel könnte ihn hier befreien. Vielleicht wäre es wirklich erst der Anblick von Rossos Werken hinter einem großen Glasfenster, vor dem die Wolken und sich im Wind wiegenden Äste eines Baumes, die unterschiedlichsten, mitunter momenthaft changierenden Lichtbedingungen choreographieren, der seinem Anliegen gerecht würde. Vielleicht sah sich der ewige Rebell der Form letztlich gar an seinem Unterfangen gescheitert. Manche seiner Photographien erscheinen wie eine alternative, neue Form der Expression, in der die eigenen Plastiken nurmehr Material sind. Nahezu beängstigend ist dieser Moment in der Aufnahme einer Reihe von (Versionen?) seiner „Rieuse“ festgehalten. Der auf einen Sockel montierte Kopf scheint nun wirklich belebt, vielleicht aufgrund der reduktionistischen Wirkung des Schwarz-Weiss, vielleicht weil man einem Photo auf unmittelbare Weise vertraut oder wir heute die zum Mimischen befähigten Kunststoffantlitze diverser Roboter assoziieren. So strahlt Rossos Werk gar in die Spähre der Cyborgs und animierten Maschinen einer Zeit, deren Kunst längst kaum mehr Musse (oder Frusttoleranz) für solch unüberwindbare Probleme hat, die den italienischen Frühmodernen einst zur formalen Revolution führten.


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