Wenn die Augen Wörter trinken
Andreas Richartz über die Neuerscheinung „Max Ernst: Die Schriften“ im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König (636 Seiten, 48,- €)
Er war der große Weltgewandte, der Kosmopolit, der Polyglott des Surrealismus, der König der Vögel, Loplop war er: Max Ernst, der, anders als Dali im besten Sinne megaloman, so ungemein fleißige Erschaffer surrealer Welten. Wie sich jetzt nicht ganz überraschend zeigt, hat Ernst weit über die Rahmung seiner Bilder hinausgedacht. Als Lyriker, Rezensent, surrealistischer Genre-Denker und Übersetzer.
Max Ernst über Hunderte von Seiten als Schriftsteller? Und was für einer! Das ist viel zu wenig bekannt und wird sich nun hoffentlich ändern. Dafür sorgen könnte die Vollendung eines Mammut-Projekts von seltener Leidenschaft und eben jenem zähen Fleiß, den der Meister selbst sich über Dekaden zu Eigen gemacht hatte. Das Ergebnis ist die Herausgabe aller recherchierbaren Texte in allen von Ernst genutzten Sprachen im Zeitraum von über 60 Jahren (1912 bis 1975). Sie liegen nun erstmals vollständig gesammelt in einem über 630 Seiten starken Band vor: Max Ernst – Die Schriften schließt eine Lücke, die es so (und so lange) nur hat geben können, weil sich niemand im deutschsprachigen Raum bislang erbarmen wollte, diese herkulische Aufgabe zu bewältigen. Die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Wix nahm sich viel Zeit und ein hervorragendes Team, um mit unermesslicher Geduld ein im wahrsten Sinne des Wortes schwergewichtiges Buch auf den Weg zu bringen. Dessen Existenz alle Apologeten des Ernstschen Gesamtwerks zu Jubel veranlassen dürfte. Gabriele Wix hat einen Lehrauftrag für vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Bonn. Außerdem kuratiert sie Ausstellungen zu Künstlerbüchern und Schreibprozessen und promovierte 2009 zu Max Ernst als Dichter und Schriftsteller. Insofern war die thematische Verquickung vor allem Beginn auf intensive Weise bereits gegeben.
Dabei ist die Veröffentlichungsgeschichte kein unwesentliches Bonmot, sondern glich bisweilen einem surrealen Drama. Werner Spies hat sich früh stark gemacht für die Idee, dem geneigten Leser den Schriftsteller und (dadaistischen) Dichter Max Ernst in seiner ganzen Vielfalt in einer entsprechend aufbereiteten Veröffentlichung zu präsentieren. Das Fundament für ein Gelingen legten sodann die Max Ernst Gesellschaft Brühl und das Max Ernst Museum des LVR Rheinland.
Alle Texte sind über die Erstabdrucke editiert worden, Reisen nach Belgrad, Mailand, Zürich und New York wurden obligatorisch. Die Erlangung der Rechte gestaltete sich kompliziert, da viele der Texte nicht lizenzfrei waren, was einen aufwändigen und jahrelangen Schriftverkehr mit den Erben und dem Pariser Verlag Gallimard, der in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine unvollständige Ausgabe der Schriften Ernsts herausgegeben hatte, unumgänglich machte.
Das Besondere an dem Buch ist aber weitaus mehr als die Zusammenstellung aller rund um den Globus verstreuten Texte von Max Ernst, derer man habhaft werden konnte.
Es besteht auch darin, ein Trio namhafter mehrsprachiger Dichter*innen unter Vertrag genommen zu haben, die als Lektor*innen und Übersetzer*innen eine ins unermessliche gehende Korrespondenz um z.T. jedes einzelne Wort auf sich genommen haben. Dagmara Kraus für die Texte aus dem englischen, Uljana Wolf für die Texte aus dem französischen, Joachim Geil für das Lektorat; allesamt mehrsprachige Autor*innen, die seit Jahren einige literarische Meriten und Preise als Epiker*- und Lyriker*innen auf sich vereinen. Es besteht überdies darin, dass die Herausgeberin über Jahre zehntausende Kilometer gereist ist für das Zustandekommen des Buches. Der Büchner-Preisträger von 2016, Marcel Beyer, konnte für ein die Bedeutung dieser Schatzzusammenführung einordnendes Nachwort gewonnen werden, was wahrlich keinen Nachteil darstellt. Es rundet das Bild über ein mit viel Leidenschaft und Liebe erarbeitetes Terrain auf angemessene Weise ab.
Was also bietet der trotz des fast vollständigen Fehlens von Bildmaterial seiner Form nach einzigartige Band? Viel wunderbare Literatur! Im ersten großen Teil „Selbständige Veröffentlichungen“ (das Inhaltsverzeichnis bietet keine numerische Kapitelgliederung und Untergliederung) gibt es unter dem Titel „Jenseits von Malerei“ diese wundervolle von Dagmara Kraus aus dem französischen übertragene Stelle, in der der 34jährige erzählt, wie und an welchem Tag er die Frottage für seine Malerei fand und die zeigt, dass Ernst mehr als bloße Notizen zu formulieren mit dem Stift unterwegs war. Der Umstand mag geläufig sein, doch hat man ihn je gelesen? Das sind keine schnöden Randnotizen, die redundante Banalitäten abhandeln, das ist Formulierungslust mit höchster Freude am Detail:
„Am 10. August 1925 ließ mich eine unerträgliche visuelle Obsession die technischen Mittel entdecken, die mir eine Verwirklichung der Lektion Leonardos ermöglichten. Von einer Kindheitserinnerung […] ausgehend, während der eine Vertäfelung aus falschem Mahagoniholz gegenüber meinem Bett Ausgangspunkt einer optischen Provokation war, einer Vision im Halbschlaf, nahm mich bei Regen in einer Herberge am Meer der Eindruck gefangen, den der Dielenboden auf meinen irritierten Blick machte; tausendfache Reinigungen hatten dessen Rillung verstärkt. Ich entschied mich also, den Symbolgehalt dieser Obsession zu fördern und, auf meinen meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten etwas nachhelfend, eine Serie von Zeichnungen aus der Betrachtung der Diele abzuleiten, indem ich darauf zufällig verteilte Papierbögen auslegte, die ich mit einer Bleimine durchzureiben begann.“ (Selbständige Veröffentlichungen / Jenseits von Malerei, I GESCHICHTE EINER NATURGESCHICHTE, 10. August 1925: S. 108, Z. 12 – 26)
Wir verdanken also die Erfindung der Frottage für den Surrealismus der Reinlichkeit einer französischen Herberge auf der bretonischen Halbinsel. Wer hätte das gedacht? Dass Ernst die viel gescholtene Graffiti-Kunst, Street- und Mural-Art begrüßt hätte, diese wenig gewagte Einschätzung können wir folgendem Eintrag entnehmen:
„Jedermann liebt Cézanne u. rollt Augen: `Diese Pänthür! Ooo diese Pänthüüüre!` […] Jedermann liebt auch jedermanns Expressionisten, aber er wendet sich mit Abscheu weg von den genialen Zeichnungen in Pissoirs.“ (Verstreute Veröffentlichungen / Beiträge in Zeitschriften bis 1921, Über Cézanne, S. 374, Z. 6 f.)
Max Ernst ist voller überbordender Fabulierlust, platzt vor Schalk, Humor und Ironie aus allen Nähten und macht auch da einen Heidenspaß, wo es um die mehr kulturhistorische Lektüre seiner Schriften mit kunstgeschichtlichem Studiencharakter geht! „Max Ernst schreibt nicht auf, er schreibt.“ Sagt Marcel Beyer zu Recht. Das Schmerzhafte, die Demütigungen, die er in seinem Leben immer wieder auch erlitten hat, mögen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Nahrung und Beschleuniger seiner Kunst, niemals seine Bremse gewesen sein; sie beherrschen ihn nicht. Er kann hart, ja scharf wie eine gewetzte Sichel sein, sarkastisch gar manchmal, aber er jammert nicht. Nie. Max Ernsts Schriften zu lesen, tief in sie einzutauchen und damit in den Kopf eines der Künstler-Riesen des 20 Jahrhunderts, ist auch so, als folgte man einem Resilienzwunder gegen alles Darben, das sich ihm in den Weg stellen wollte. Eben einem „Dichter von heiterer Rücksichtslosigkeit“ (Beyer). Einige Gemeinschaftsarbeiten (z.B. mit Johannes Theodor Baargeld und Heinrich Hoerle) enthält der Band auch, was Ernsts Teamplayer-Fähigkeiten, wo auch immer es etwas zu erschaffen und auszuprobieren galt, unterstreicht.
Man hätte sich wünschen mögen, alle in Ernsts Geheimschrift und mit kleinen zeichnerischen Elementen versehenen Texte als Faksimile reproduziert und abgedruckt zu finden. Doch das war bis auf wenige Ausnahmen schlechterdings unmöglich, denn es hätte die 630 Seiten auf ein Zehnfaches wuchern und den Band bzw. die dann notwendige Mehrteiligkeit der Bände unbezahlbar werden lassen. Diese Idee war also nie Option. Die wenigen Ausnahmen bilden z.B. eine Reproduktion einer früheren Herausgabe von „Erstes unvergessliches Gespräch mit der Chimäre“, bei dem das zeichnerisch angeordnete Handschriftbild von Ernst in herausfordernder grafischer Weise von Silke Fahnert und Uwe Koch mit Schrifttypen nachempfunden, gesetzt und von Uljana Wolf ins Englische übertragen wurde sowie die bis heute Ernst-Forscher beschäftigende Geheimschrift, in der er z.B. den „Brief für Anica Zürn“ und die „Gedanken über die Malerei“ verfasst hat. Diese Konzentration auf den Literaten Max Ernst bezeichnet den einzigen möglichen Schwachpunkt der Publikation für all jene, die einen Band erwarten, in dem sich bildliche Darstellung und Textkörper jeweils begegnen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen geschieht dies nicht, was dennoch zu keiner Bleiwüste führt, da die Herausgeberin – um jedem einzelnen Text dennoch gerecht zu werden – noch der kürzesten singulären Strophe einen eigenen Seitenraum beigemessen hat.
Das Buch ist unterteilt in vier Sektionen, die wiederum Unterteilungen enthalten; nicht allein der Ermangelung eines Kapitalbändchens wegen haben Silke Fahnert und Uwe Koch entschieden, die Kapitel und Unterkapitel durch jeweils dunkel- und hellgraue Buchschnitteinfärbungen visuell zu kennzeichnen, was eine feine, subtile Idee ist. Die „Selbständigen Veröffentlichungen“ stellen den größten Teil des Bandes. Sie enthalten die lyrischen, die dadaistischen, die autobiografischen und Prosatexte, die Ernst geschrieben hat. Natürlich der stärkste, der intensivste Teil der Veröffentlichung. Große Überraschungen von eindringlicher Qualität und Ausdrucksvermögen erwarten den Leser.
Es folgen die „Verstreuten Veröffentlichungen“, die seine frühen Beiträge in der Bonner und Kölner Tagespresse bis 1921, frühe Gemeinschaftsarbeiten, Beiträge in Zeitschriften ab 1921 in Brüssel, Paris und New York und schließlich Beiträge für Kataloge, Gruppenausstellungen und Ausstellungen befreundeter Künstler*innen sowie aus Sammelbänden umfassen. Auch als junger, frecher, wilder Rezensent – dabei früh auch auf der reflexiven, der Kritikerseite – macht Ernst klar, dass Sprache für ihn nicht ein Nebenbei ist, sondern als absolut gleichberechtigtes Material innerhalb seiner Kunst steht.
Die dritte Sektion enthält die „Übersetzungen“ aus dem Französischen (Texte von Paul Èluard und Hans Arp) sowie solche ins Französische (neun Galgenlieder von Christian Morgenstern – mit Robert Valancay – und ein 1810 von Heinrich von Kleist herausgegebener Gemeinschaftstext von Achim von Arnim und Clemens Brentano über Caspar David Friedrichs „Seelenlandschaft mit Kapuziner“).
Die vierte, schlicht mit „Ende“ betitelte Sektion enthält neben den 44 Seiten knappen und dennoch starken „Nachweise(n) und Erläuterungen“ (nicht zu verwechseln mit einem historisch-kritischen Apparat) die „Rede anlässlich der Entgegennahme des Lichtwark-Preises“ am 13. Januar 1964 in Hamburg, eine Transkription eines Tondokuments, das 1964 zunächst als Schallplatte veröffentlicht und nach 45 Jahren als Audio-CD-Beilage in Gabriele Wix „Max Ernst. Maler, Dichter, Schriftsteller“ (München 2009), wieder veröffentlicht wurde. Den Abschluss bildet ein als „Nachwort“ ausgewiesener 15-seitiger Essay von Marcel Beyer der u.a. die Wirkungen des Ernstschen Schaffens auf die Autoren Michel Butor und Michel Leiris ins Feld einiger Vermutungen setzt. Ein schöner Band, eine wichtige Veröffentlichung, die Gelegenheit bietet, immer wieder und stundenlang die trilingual eloquenten Hirnwindungen des Max Ernst aufzustöbern.