Surreal Futures
Andreas Richartz über „Surreal Futures“ eine Ausstellung mit über 30 künstlerischen Positionen aus den Bereichen digitale Kunst und Medienkunst im Max Ernst Museum Brühl, bis 28.1.24
18 Jahre hat das Max Ernst Museum in Brühl auf dem Buckel: Die Volljährigkeit des Museums geht einher mit dem ersten Leitungswechsel, der mit Madeleine Frey mehr als nur einen neuen Namen auf Führungsebene bedeutet. Das bezeugt die neue große Ausstellung, mit der die Kulturmanagerin und Kunsthistorikerin, die Ende 2022 von der Galerie Stadt Sindelfingen nach Brühl gewechselt ist, zum ersten Mal sowohl den Wechselausstellungsraum als auch die ständige Sammlung in den großräumigen zwei Etagen der Sammlung Max Ernst einbezieht: „Surreal Futures“, eine fulminante Auseinandersetzung mit Positionen 31 internationaler Künstler*innen aus 18 Ländern, die die zeitgenössische Relevanz des Surrealismus für die Weltkunst auslotet. Sie trägt ihre These voller Selbstbewusstsein in ein kuratorisches Abenteuer, das zweierlei überzeugend zu belegen sich aufschwingt. Erstens: Max Ernst war der erste protodigitale Künstler der modernen Kunstgeschichte. Zweitens: Der Surrealismus ist mehr als eine bloß historische Episode vergangener Kunstentwicklung. Der Surrealismus lebt, inmitten einer digital-reflexiven Gegenwartskunst!
Als interaktives „Tor zur Ausstellung“, bildet Louis-Philippe Rondeaus LIMINAL ein wunderbares Entreé in DIGITAL BODIES, den ersten von vier Themenschwerpunkten der Ausstellung. Rondeaus Spiel mit der abgebildeten Zeit wird ganz sprichwörtlich, weil es für jeden Museumsbesucher ein großer Spaß ist, sich selbst beim Durchschreiten des USB-Kamera-Portals auf der gegenüberliegenden Wand davongleiten zu sehen, je nach Geschwindigkeit entsprechend gedehnt und in die Länge gezogen. Gegenwart wird fühlbar als ein verzerrtes Übergangs-Paradigma einer noch nicht vergangenen Handlung, die in ein zukünftiges Nichts kulminiert. So surreal-philosophisch kann Kunst sein; die Show beginnt noch vor dem eigentlichen Ausstellungsraum mit einem interaktiven Highlight, das eine wahre Freude ist.
Spielerisch, schlafwandlerisch und dabei traumverloren begrüßt uns der überdimensionale Cyber-Tentakel-Avatar OZ (2022) der chinesischen Künstlerin Cao Fei (*1978) auf zwei im Hochformat gestellten Bildschirmen beim Eintritt in den Luise-Ernst-Strauss-Saal. OZ ist ein melancholisches Mischwesen aus Feis futuristischer Virtual-Reality-Konstruktion Duotopia, einer fiktiven Metropole im Metaverse, die kybernetische und organische Elemente gestaltet, ein Wesen, das in einer Art Gefangenheit zu schweben scheint.
James Elwes (*1993) entlarvt in seiner sechstteiligen Multi-Kanal-Videoinstallation ZIZI – QUEERING THE DATASET (2019) die heteronormative Repräsentation von KI-Funktionssystemen, die angeblich auf einer repräsentativen Auswahl an Datensätzen aufbauen und dabei – wie Elwes quietschbunt und vergnügt aufzeigt – die Berücksichtigung von Queerness, Drag und genderfluiden Individuen weitgehend außer Acht lässt. Elwes fügt in einer „Umschulung“ eines Gesichtserkennungssystems 1000 Fotos von Personen hinzu, deren Exklusion sich vorher aus der ästhetischen Diskriminierung ergab, die den gängigen KI-Systemen überwiegend zugrunde liegt und zeigt im Ergebnis eine surreal-queere Gesichtslandschaft, die ihre Kraft aus der Vielfalt der hinzugekommenen Porträts anders aussehen wollender Menschen schöpft.
Dass der in Brühl bereits mehrfach begegneten Johanna Reich eine neuerliche Einladung ausgesprochen wurde, zeigt die inzwischen vorhandene Verbundenheit des Hauses zu ihrem Werk. FACE DETECTION (2018) ist eine spannende und für Reich (*1977) ungewöhnliche, handcrafted Ton-Arbeit, die algorithmische Vorgaben zum Ausgangspunkt der Frage macht, ab wann KI ein angeblich menschliches Gesicht als ebensolches zu definieren sich ermächtigt. In dem Moment, in dem die KI ein Gesicht „erkannte“, hörte Reich mit ihren Knetungen des Tons auf. Die Ergebnisse zeigen ein von der KI definiertes Gesichts- und Menschenbild, das sich bereits mit rudimentären, noch nahezu amorphen Ergebnissen „zufrieden gibt“; nebenbei offenbart Reichs Arbeit, wie erschreckend weit derartige Erkennungssysteme bereits gediehen sind.
Eine in ihrem autobiografischen Duktus an den auch schon in diesem Haus zu Gast gewesenen Jürgen Klauke und seine seriellen Selbstporträts erinnernde Arbeit steuert Doug Rosman (*1991) mit SELF CONTAINED (2019) bei, wenn er aus 15.000 Selbstporträts per Beamer einen fluiden Körper in allen möglichen und unmöglichen Verrenkungen und bis zur sechsfachen Duplizierung in eine Baconsche Fleisch-Masse verwandelt, die er an eine gegenüberliegende Wand projiziert.
Die Themenschwerpunkte im Wechselausstellungsraum bilden keine klare lineare Narration, sie werden nicht in einem unausweichlichen Parcour abgearbeitet, bevor es zum nächsten Kapitel kommt. So geschieht es, dass in einer später zu entdeckenden Passage eine Position verortet wird, die wir in einem der vorherigen Schwerpunkte gesehen haben. Oder umgekehrt. Auch das ein Kennzeichen für eine im Sinne eines kontemporativen Surrealismus intelligente, architektonisch befreite Kuratierung, die verwirrt, die irritiert, die bricht mit Erwartungen und allzu leichter Zugänglichkeit. Klarheit über die thematisch gebündelten Zusammenhänge bietet indes die Microsite, die sich unbedingt (per QR Code Reader) auf sein Handy laden sollte, wer nicht nur mit den Augen, sondern auch mit Hirnschmalz in diese Show eintauchen will.
TRANSFORMING LANDSCAPES, ein weiterer Themenschwerpunkt, bildet eine Auseinandersetzung mit jenem unleugbar wachsenden Einfluss des Menschen auf unser planetares System, der heute unter dem Begriff Anthropozän (das Erdzeitalter des Menschen) eine immer weiter fortschreitende Industrialisierung einerseits und die inzwischen mittels digitaler Technologien und Bildgebungsverfahren in einer paradoxalen Schleife abbildbaren Auswirkungen dieses Einflusses andererseits beschreibt.
Als das ambitionierteste Werk erscheint hier ASUNDER (dt.: Auseinander, 2019) des Künstler*innen-Kollektivs um Tega Brain (Australien), Julian Oliver (Neuseeland) und Bengt Sjölén (Schweden): Sie entwarfen für ASUNDER einen hochspezialisierten Supercomputer und speziell entwickelte neuronale Netze, die kontinuierlich und live Satelliten-, Klima-, Geologie-, Biodiversitäts-, Topografie-, Bevölkerungs- und Social-Media-Daten analysieren. Der Clou: ASUNDER, ein monströses Video-Triptychon, das an das Innere von SF-Raumschiff-Brücken erinnert, ist ein fiktiver „Umweltmanager“, der zu mitunter kruden Lösungs-Strategien wie der Umsiedlung oder Auslöschung ganzer Städte kommt, da er nicht den Menschen als zentrale Bezugsgröße, sondern eine Balance zwischen natürlichen Ressourcen, sozialer Gerechtigkeit, dem Schutz bedrohter Arten und der Nachhaltigkeit der Poduktion setzt. Kritik am Mythos von KI als angeblich neutralem Instrument für universelle Problemlösungsfragen wird hier fulminant untermauert und ist allein eine längere Beschäftigung mit diesem Kunst/Wissenschafts-Trio im Nachgang zur Austellung wert.
Eine der schönsten Arbeiten dieses Themenschwerpunkts sind die DREAMPRINTS (2021) von Justine Emard (*1987), glasierte Terrakotta-Skulpturen aus dem 3D-Drucker, die auf der Grundlage ihrer eigens in einem Schlaflabor zu diesem Zweck aufgezeichneten Hirnwellen („Traumdaten“) eine zauberhafte plastische Transformation von Hirnaktivität darstellen: So (zum Beispiel) sehen also unsere Träume aus, wenn wir digitale Technologien mit hirnphysiologischen Phänomenen koppeln und diese Gestalt annehmen lassen.
Die OBJETS- MONDE (2022) von Sabrine Ratté (*1982) überwältigen als interaktive 1-Kanal-Videoinstallation mit einem Soundtrack; ein spekulativ-futuristischer „Flug“ durch eine dystopische Welt, durch deren Versehrtheit, Vermüllung und Zerfall nach dem Ende des Homo Sapiens; eine Reise, die uns ein weiteres Mal unsere vermüllte Welt „ohne uns“ und nach unserer rundumfänglich zu Ende gebrachten Ausbeutung des Planeten drastisch vor Augen führt.
HOW TO MAKE AN OCEAN (2020) ist ein berührendes Projekt der polnisch britischen Künstlerin und Designerin Kasia Molga. In einem mehrstufigen Entstehungsprozess auf der Grundlage der Tränen ausgesuchter Personen, Meerwasser und Algen, entstehen mikro-maritime Ökosysteme in tränenförmigen Mini-Glasverschlüssen, die uns mit den Themen Unwiederbringlichkeit, Verlust, Trauer aber auch der ökosystemischen und externen Weiterverwertbarkeit des menschlichen Körpers konfrontieren wollen.
Den dritten Aspekt mit dem Titel FUTURE WORLDS setzt die Ausstellung im Wechsel-Saal unter dem Schlagwort „Afro-Futurism“ und „Decolonialism“. Wer sich zunächst an ein „schwieriges Thema“ gemahnt glauben will, wird hier überrascht von einer der humorvollsten Arbeiten der Ausstellung überhaupt: Isadora Neves Marques digital animiertes Video THE EARLY DEATH OF SIGMUND FREUD (2021) ist eine witzige Schmähung eines der einflussreichsten westlichen Denksysteme, das – folgt man Neves Marques – die memetische Zementierung der Heteronormativität wie einen Virus über den Erdball verbreitet und somit das Gegenteil von Vielfalt in den subjektiven Möglichkeitsräumen der Menschen evoziert hat. Der kurze Film reagiert darauf mit der aberwitzigen Fantasie, den Zuschauer zu fragen, welches wohl der geeignetste historische Moment gewesen sein könnte, Freud zu töten.
Und auch in diesem Ausstellungskapitel wird ein interaktives Element in den Mittelpunkt gerückt, wenn in der Rauminstallation DESERTFUTUREKNOWLEDGE (2023) von Camilo Sandoval eine kleine Bibliothek mitten in der Ausstellung zum Verweilen auf halbierten Ölfässern einlädt und ein weiteres Ölfass-Fragment als Spielekonsole für ein Spiel zu zweit dient, das nur untereinander (vertikal) spielbar ist und so (koloniale) Machtstrukturen erfahrbar machen will.
PASTPRESENTSFUTURES, das vierte und letzte Thema, erweitert die Ausstellung – endlich, will man ausrufen – in die ständige Sammlung auf den zwei höheren Etagen des Hauses und die Show damit auf ein in 18 Jahren so nicht betretenes, neues Terrain:
Wie bei der online abrufbaren Microsite der Ausstellung, so wird hier die konkrete Gegenüberstellung mit Werken von Max Ernst über die virtuelle Korrespondenz hinaus weiter betrieben: 11 Interventionen mit dem Sammlungsbestand, die den Grundgedanken der Ausstellung auf die Probe stellen: Die Weiterentwicklung des Surrealismus hinsichtlich seiner Relevanz für eine zeitgenössische Kunst, die sich mit den drängendsten Zukunftsfragen unserer Kulturen auseinandersetzen will. Dabei verweisen die hier auffindbaren Positionen wiederum je auf unterschiedliche Schwerpunkte aus den drei Themenbereichen im Luise-Ernst-Strauss-Saal.
Wunderbar, wenn Tim Berresheim (*1975) dreidimensionale und für diese Ausstellung neu entstandene Wandarbeit MONDMLCH BOCKSTEIHÖHLE die räumlichen Grenzen digitaler Ästhetiken erfahrbar machen will, wenn Cyprien Gaillards L´ANGE DU FOYER den zerstörerischen Dämon eines der beindruckendsten (antifaschistischen) Bilder Ernsts zum Leben erweckt. Oder wenn Jessi Ujazi in ihrer dreiteiligen digitalen Collage META-ILLURGY (ASHWELL BOYD), aus der Serie AFRO-OMNISCIENCE die Suche schwarzer Menschen nach einer (ihrer) genuinen Identität zum Ausdruck bringt, indem sie Fotografien prominenter POC (Tiara Kelly, Balla Toure, Ashwell Boyd) mit historisch digitalem Material aus dem Archv des Metropolitan Museum of Modern Art verfremdet und damit neue (heroische) Narrative schafft, die nicht zufällig an Marvels Black Panther-Reihe (und darüberhinaus an Ernsts meisterhafte Collagentechnik) erinnern.
Eine singuläre und vordergründig zu keinem der vier Themenschwerpunkte passende Arbeit am fortgeschrittenen Ende der Ausstellung sei besonders erwähnt: Maxime Rossis Film-Essay REAL ESTATE ASTROLOGY ist eine bildpoetisch-halluzinogene Auseinandersetzung mit Ernsts lebenslangen Inspirationsquellen, bei der sich ein letztes konzentriertes Verweilen unbedingt lohnt.
Fazit: Das Max-Ernst-Museum Brühl wird erwachsen. Das Besondere dieser Ausstellung ist ihre eindeutige Absage an populistische Gefallsucht. Stattdessen hat sich das Brühler Team für eine mutige, risikoreiche und unbequeme, ja geradezu pamphletische Variante voller Selbstbewusstsein entschieden: Indem es aktuelle und im wahrsten Wortsinn weltbewegende Diskurse von (relativ) jungen Künstler*innen zur Spiegelung bringt, zeigt es, dass ihm diesmal die Inhalte vor allen großen Namen der wichtigere Ausgangspunkt war. Insofern löst Madeleine Frey mithilfe einer fantastischen Kuratierung Patrick Blümels gleich bei ihrer ersten großen mitverantworteten Show im Max-Ernst-Museum ihre auf der Pressekonferenz zum Dienstantritt (Oktober 2022) ausgegebene Losung für eine Transformation des Hauses ein. Solch groß angelegte Versuchsanordnungen mannigfacher Positionen in einem Setting für drängende Zukunftsfragen sollten sich in Zukunft unbedingt wiederholen!
Artikelbild: Installationsansicht „Surreal Futures“ mit Details aus dem Werk von Pinar Yoldaş, An Ecosystem of Excess, 2022, Metabolisierende Kunststoffe, Glasgefäße, Plastikobjekte, Foto: Stefan Arend / LVR-ZMB