Die unaufrichtige Welt von Broodthaers


Hauke Ohls über „Marcel Broodthaers – Eine Retrospektive“ im K21, Düsseldorf, bis 11.6.

Zum Werk von Marcel Broodthaers (*1924 Brüssel; †1976 Köln) gehört die Besonderheit seiner Biografie. Er hat sich 1964 im Alter von vierzig Jahren entschlossen, bildender Künstler zu werden, und zuvor über zwei Dekaden als erfolgloser und verarmter Poet in seiner Heimatstadt Brüssel gelebt – mit den belgischen Surrealisten befreundet und sich ausschließlich von Kohlsuppe ernährt. Es ist eine dieser Künstlermythen, bei denen es unerheblich scheint, ob sie wahr sind oder nicht. Viel wichtiger ist, dass sie für die gesamte Symbolik des Œuvres als konstitutiv angesehen werden können; eine Folie, die viel verrät, aber auch immer kritisch überprüft werden muss. (Ganz ähnlich im Fall von Joseph Beuys, der wohl niemals im zweiten Weltkrieg von Krimtataren über Tage mit Fett und Filz gesundgepflegt wurde.) Bei Broodthaers, der vor 1964 nicht nur als Dichter, sondern ebenfalls als Fotograf, Filmemacher, Journalist und Antiquar tätig war, kam die Verwandlung mit seiner Ausstellung in der Galerie Saint Laurent in Brüssel, auf deren Einladungskarte er sich fragte: „ob ich nicht etwas verkaufen und Erfolg im Leben haben könnte […]. Da kam mir die Idee, etwas Unaufrichtiges zu erfinden.“ Unaufrichtig sind in seinem Fall Kunstwerke. Objekte, die ohne Probleme vermarktet und in Tauschwert umgewandelt werden konnten. Proklamatisch für diesen Schritt ist die Skulptur „Pense-Bête“ von 1964, in der er unverkaufte Exemplare seines gleichnamigen Gedichtbandes aus demselben Jahr nimmt und mit Gips auf einen Sockel modelliert. Sein Abgesang auf die Dichtkunst macht diese unleserlich, erschafft dadurch jedoch ein Werk der bildenden Kunst. Leider hat es diese Inkunabel seines Gesamtwerks, die im MoMA noch einen prominenten Platz bekam, nicht bis in die Düsseldorfer Ausstellung geschafft.

Das K21 ist die dritte und letzte Station einer retrospektiven Ausstellungstournee des belgischen Künstlers, die vor über einem Jahr im Museum of Modern Art New York begann und anschließend im Museo Reina Sofía in Madrid zu sehen war.
Während in New York dem Besucher eine Abfolge aufgezwungen wurde, hat das K21 den Vorteil, dass die Ausstellungsfläche flexibler in der Raumaufteilung ist. Zwar ist auch hier eine Lesrichtung angelegt, dennoch gehen die meisten Besucher instinktiv in die genau entgegengesetzte Richtung: die große Freifläche mit angrenzenden Installationen ist einfach zu verlockend. Und so ist man bereits mittendrin, in den Palmen, den Objekten oder den Filmen, die in Broodthaers’ Welt hineinziehen. In ihr sind Zeichen, Schrift, Bild, Poesie, Medium, Museum, Autor zu einem ironisch-homogenen Brei der romantischen Provokation vermischt. Es ist überwältigend, so viele seiner Arbeiten an einem Ort versammelt zu sehen. Die Freude lässt sich auch nicht dadurch schmälern, dass bereits im Sommer 2015 das Kasseler Fridericianum eine umfangreiche Broodthaers Retrospektive zeigte, denn diese Ausstellungstournee ist mit rund 200 Werken nicht nur umfangreicher, ihr geht auch eine vierjährige und mit Sicherheit budgetintensive Vorbereitung seitens der beiden Partnerinstitutionen voraus.

In den zwölf Jahren seines künstlerischen Lebens erschuf Broodthaers ein facettenreiches Œuvre. Mitte der sechziger Jahre zunächst eine ganze Serie von Assemblagen aus natürlichen Materialien oder Essensabfällen. Sein Werk „Bureau de moule“ von 1966 ist ein antiquierter Kommodentisch in dunklem Braun, der übersät ist mit geöffneten Muschelschalen, die Broodthaers von einem nahegelegenen Restaurant bekam. Befestigt ist die Anhäufung mit Polyesterharz, dessen durchsichtige und dickflüssige Textur wie schleimiger Muschelsaft aussieht, als wären die Schalen noch mit ihrer Frucht vermischt. Der Geruchstest macht jedoch deutlich: hier geht es nicht um Verwesungsprozesse oder das Konservieren einer zufälligen Anhäufung, wie bei seinen Zeitgenossen Dieter Roth und Daniel Spoerri. Auch scheint es weit entfernt von den Müllakkumulationen eines Arman, die die Überflussgesellschaft reflektieren sollen. Broodthaers ist komplexer, er unterwandert nicht nur Darstellungskonventionen und erweitert das Verständnis von kunstwürdigen Materialien, bei ihm gibt es auch den ironischen Kommentar zu seinem Heimatland. Als ein Nationalgericht Belgiens verweist die Kostbarkeit dieser Muschelspeise auf die Wertigkeit eines Kunstwerks aus ihr, beides bezieht sich wiederrum auf den bürgerlichen Konsumenten, bei dem sie naturgemäß zusammenfinden.

Broodthaers Experimente gehen jedoch weit über solche Werkgruppen hinaus. Sein Verhältnis zur Literatur ist bereits intensiv diskutiert worden und an den Werken nachzuvollziehen wie „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ von 1969, eine Auseinandersetzung mit einer wichtigen Referenz, dem Dichter Stéphane Mallarmé. (Ausgerechnet ein anderer wichtiger Bezugspunkt, René Magritte, gab Broodthaers 1946 den ersten Gedichtband von Mallarmé.)
Wahrscheinlich noch intensiver als Broodthaers’ virtuose Reflexionen von Bild, Abbild und Schrift wurden seine institutionskritischen Abenteuer in der kunstwissenschaftlichen Forschung besprochen. Von 1968 bis 1972 verkündete er offiziell seine Abkehr vom Künstlerdasein, um in dieser Zeit als Museumsdirektor aufzutreten. Seine fiktive Institution „Musée d’Art Moderne, Département des Aigles“ begann in seinem Atelier als beinahe zufällige Reaktion auf die Studentenunruhen und umfasste gegen Ende zwölf Sektionen. Jede von ihnen ist eine ironische Untersuchung von Aspekten der Museumsarbeit wie „Information“, „Finanzen“ oder auch „Sammlung“. In den anschließenden Jahren bis zu seinem Tod schuf Broodthaers weiterhin raumgreifende Installationen, diese jedoch unter seinem Konzept des „Décor“, wobei die semantische Verschiebung im Französischen zum Begriff des „Filmsets“ eine wichtige Rolle spielt. Beide Werkgruppen enthalten keine eigenhändigen Kunstwerke im traditionellen Sinne und sind maßgeblicher Bezugspunkt für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler. Im K21 ist diesen Ausschweifungen von Broodthaers viel Platz gewidmet, sodass auch 50 Jahre später die herrliche Irritation, die sie hervorgerufen haben, noch vollends wirken kann.

In der Arbeit „Série en neuf tableaux en langue allemand, die Welt“ von 1973 sind sieben Namen von großen Denkern mit ihren Geburts- und Todesdaten aufgelistet. Fast wie eine archivalische Kartei mit schwarzer Schrift auf weißem Grund gibt es beispielsweise „Die Welt von Marx *** 1818-1883“ sowie „Die Welt von Nietzsche *** 1844-1900“. Eine der insgesamt neun bedruckten Leinwände ist noch auszufüllen, eine andere enthält nur das Werkdatum. Für Broodthaers existierten 1973 in der Rückschau diese sieben Welten getrennt und parallel. Jedem von ihnen kann wohl ein enormer Einfluss auf das Jahr zugestanden werden, in dem das Kunstwerk hergestellt wurde. Aus der heutigen Perspektive betrachtet, existierte die (wie er selbst sagte) unaufrichtige Welt von Broodthaers von 1924-1976 und wirkt mehr denn je in die zeitgenössische Kunst hinein, wie sich an Dominique Gonzalez-Foerster, Rirkrit Tiravanija, Rodney Graham oder auch Cerith Wyn Evans zeigen lässt, um nur einige zu nennen, die ihn explizit zitieren. Für die Zukunft der Kunst erscheint es daher unumgänglich, dass regelmäßig – vielleicht alle zwei Jahre ¬– eine Retrospektive von Broodthaers in Deutschland stattfindet. Das K21 hinterlässt für jede nachfolgende Institution, die sich dieser Aufgabe annehmen möchte, große Fußstapfen.


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