Lichterwelt und Schattenreich

Lichterwelt und Schattenreich


Oliver Tepel über das neue Musée Fin de Siècle in Brüssel

Sie erwarteten eine große Zeit. In den gasbeleuchteten Straßen der europäischen Metropolen strömen Menschen durch die artifiziell erhellte Nacht hinein in Theater und Ballsäle, sie feiern und eifern und fallen aus der Rolle. Bürgerliche Freiheiten scheinen das Zentrum jener Epoche, die heute „Fin de siècle“ genannt wird. Zumindest, wenn man den Einladungen zum Besuch des neuen Museums auf dem Brüsseler Kunstberg glaubt: „Come and ride the wave of Fin-de-Siècle excitement“, ruft es von Druckwerken oder Smartphonebildschirmen. So muss das wohl sein, in der Logik der Werbesprache. Man will ja nicht sagen: „Treten sie ein ins Reich der Dunkelheit!“ Ist ja keine Geisterbahn. Oder doch?

Eingang

Eingang

Als im Februar 2011 das Musée royal d’art moderne à Bruxelles endgültig seine Pforten schloss, ging es darum, eine beeindruckende und dennoch in ihrer technischen Ausstattung veraltete Architektur zu überholen. Aber auch das Konzept des erst 1984 eingeweihten Museums wurde in Frage gestellt. Der Generaldirektor der Königlichen Museen der Schönen Künste in Brüssel, Symbolismus- und Magritte-Experte Michel Draguet, plante eine umfassende Neustrukturierung der staatlichen Sammlungen. Die Eröffnung des Magritte Museums 2009 galt als erster Schritt. Ihm sollte nun ein Museum über die Kunst der Jahrhundertwende folgen. Doch wohin mit all den anderen Jahrzehnten der Moderne? – Die letzten Nachrichten vermelden, daß es 2017 in die architektonisch beeindruckende Citroen Garage am Brüsseler Kanal ziehen soll. Ihre Wandelgänge versprechen ein „Brüsseler Guggenheim“, doch die Umbaukosten vom Parkhaus zum Museum werden immens. Dazu kommen die Probleme mit anderen, asbestverseuchten Ausstellungsräumen der königlichen Sammlung. Dann drang im November letzten Jahres bei Dacharbeiten Wasser in die Räume des Musée royaux des Beaux-Arts. Man sah sich gezwungen, die aktuelle Rogier van der Weyden Ausstellung nur drei Tage nach ihrer Eröffnung zu schließen. Der errechnete Millionenschaden wiegt schwer. So schwer, dass Draguet im Februar von seinen Posten zurücktreten musste. Sein Museum soll nun ohne ihn bestehen. Was wird aus seiner Kreation, wenn die Aufmerksamkeit auf das Jahr 1914 als fanaler Endpunkt des Fin de siècle schwindet und Belgien allein bleibt, mit seinen verminten und von Leichenteilen übersäten Äckern und wenn Brüssels Art Nouveau Fassaden wieder einfach nur touristisches Ziel sind, fern der Notwendigkeit historischer Kontextualisierung?

Der Opponenten waren von Beginn an viele. So kritisierten nicht alleine Künstler wie Bernard Villers die Idee des Musée Fin de siècle. Fast scheint es, als erwachten erneut die alten Debatten über die Moderne. Stets eine Frage, der Identifikation! Nachdem nun einige Jahre lang eine Ausdehnung der Moderne hinein in das 19. Jahrhundert thematisiert wurde und die Grenzziehungen zwischen früher Moderne und Avantgarde zusehends facettenreicher und komplizierter gerieten, scheint es in der aktuellen Diskussion um neuerlich klare Verortungen zu gehen: „Wo ist ‚unsere Kunst’?“

Doch ist sie vielleicht vor unserer Nase. Wagen wir doch ein paar Schritte ins Dunkel!

Installation view

Installation view

DSC04313 Emile Fabry - L'offrande

Emile Fabry – L’offrande

Es gibt nunmal ein deutliches Argument für das Musée Fin de Siècle: Es ist am richtigen Ort. Natürlich genügt ein Blick ins Musée d’Orsay, um Paris als das Zentrum jener Jahrhundertwende auszumachen, doch verband Brüssel nicht nur geographisch die in das Stadtbild ragenden Schornsteine und die Metallarchitektur Londons mit der deutschen Romantik und dem Aufbruch in Paris. Sondern selbst nach vielen gedankenlosen Abrissen verkörpert Brüssels Stadtbild diese Epoche auch heute noch wie kaum ein anderer Ort. Hier feierte das Bürgertum in den neuesten Gebäuden, hier planten Künstler aller Richtungen eine neue große Zeit, während die Stadt prosperierte. Wer den „Kunstberg“ erklimmt, sieht genau dieses Brüssel – als Blick in die Vergangenheit?

„Un nouveau regard / Een nieuve kijk / A new vision“

So lautet die erste Überschrift zu den thematisch und chronologisch voneinander getrennten Bereichen. Dabei musste das Niederländische anno 1868, dem musealen Startpunkt des Fin de Siècle, weitere fünf Jahre warten, um als zweite Landessprache anerkannt zu werden. Das Konstruierte jener Geschichte auf dem Weg ins Dunkel ist omnipräsent, dennoch reizt die Idee des Reenactments. Die Pupillen weiten sich auf den ersten Schritten ins „Fin-de-Siècle excitement“. Auch wenn das Licht bereits im Eingangsbereich gedämmt wurde, braucht es einen Moment der Orientierung in den nur punktuell von LED-Leuchten erhellten Räumen mit ihren grauen, violetten und braunen Wänden. Die von Spotlights angestrahlten Werke glänzen in den Raum hinein, mitunter klebt das Licht jedoch auf Firnis oder Glas. Auf dem Boden lauern dramatisch verzerrte Schlagschatten einzelner Skulpturen. Gleich neben der Überschrift, welche die neue Vision ankündigt, dann: Louis Artan de Saint-Martins „La nuit“. Ein kalter, glasiger Mond blickt auf ein klassizistisches Tor, was immer es krönte, scheint in Flammen zu stehen während im Vordergrund eine Flut in den Bildraum strömt. In ihr, ein schwach illuminiertes Wesen, ein Leviathan oder doch bloß das Spiel der Wellen?

Julien Dillens – (Grabfigur)

Julien Dillens – (Grabfigur)

installation view

installation view

Bevor wir auf das feiernde Bürgertum treffen, begegnen wir der bäuerlichen Armut im Realismus von Constantin Meunier, Charles de Groux oder den fast pittoresken, zugleich erschütternden Miniaturfigurenensembles Léopold Harzés. Erst dann taumelt die Betrunkene im Abendkleid durch Charles Hermans’ „A l’aube“ oder sie streiten auf der Treppe des Opernhauses in Félicien Rops’ „L’attrapade“. Eingefrorene Lebendigkeit – eine Schwäche des Realismus des 19. Jahrhunderts, welche in den versteinerten Portraits jener Zeit noch stärker auffällt. Wenige Schritte weiter dokumentiert ein Zwischengang mit einer eingelassenen, durchgehenden Vitrine die neueste Weise des Fin de siècle, jene versteinerten Wesen zu bannen: die Photographie. Leider fehlen hier Beispiele der symbolistischen Lichtbildexperimente. Gegenüber der Vitrine erzählt eine Photowand vom Aufschwung Brüssels. Das Reenactment addiert Zeitgeschichte, zeigt Kameras und stereoskopische Sehmaschinen. Die Kunst vermittelt trotz ihrer Klassizismen (und im Fortschreiten dann Manierismen) ihre Stimmungen sehr unmittelbar. Das gedämpfte Licht und die historischen Verweise ergeben alsbald jenes gewünschte Zeiten-Panorama. Instrumentalisiert es damit die gezeigten Werke? Nur, wenn man nicht anerkennen will, dass jegliche Kunst auch ihre Zeit und Umstände illustriert. Dafür entsteht das Empfinden, welches Besucher mit „näher bringen“ umschreiben und manche Gelehrten die Nase rümpfen lässt.

Möglicherweise naserümpfend bemerkt man am Ende des ersten Raumes den Preis der Dunkelheit: Roger Bastins einst so viel bewundertes Konzept der acht, sich um einen Lichtschacht gruppierenden und von Raum zu Raum jeweils eine halbe Treppe tiefer ins Innere des Brüsseler Kunstberges vordringenden Etagen haben ihr konzeptuelles Zentrum verloren. Man irrt nun durch die Räume, wo einst das Licht leitete. Hinter Wänden lugt es ab und an hervor und wer ihm folgt, entdeckt eine Reihe großer Touchscreens auf denen die sechs markantesten Fin de Siècle Gebäude Brüssels einzusehen und teilweise virtuell zu begehen sind.

Doch jener hohe Preis der Aufgabe einer elegant problemlösenden Architektur erscheint zugleich als unerbittliche Analogie auf die Epoche. Nein, keine Zeit des „Enlightenment“, trotz all der Lichter in den Gassen, der Erfindungen und des Wandels doch vielmehr eine Irrfahrt, so unsere Wertung, die nicht vom primären Endpunkt, dem Desaster des Jahres 1914 absehen kann. Der Pfad durch das Museum führt, etwas verwirrt und, wenn man es so will, schlafwandlerisch, immer tiefer. Fast eine psychoanalytische Konstruktion, die jedoch beim Innehalten auch diverse Stränge und alternative Perspektiven offeriert. So geleitet den Besucher eine Reihe stets weißer Skulpturen von weiblichen Figuren durch die gesamte Ausstellung. Von der knienden, besorgten Mutter über eine erschöpfte Bäuerin, weiter zur selbstbewusst posierenden Dame der bürgerlichen Gesellschaft. Hier entwirft die Ausstellung ein idealisiertes, zugleich wirksames Portrait gesellschaftlichen Wandels und seiner divergierenden Gleichzeitigkeiten. Erste Gesten des Feminismus und seien es nur die Malerinnen in den Bildern „Les collègues“ von Pieter Oyens oder Henri Fantin-Latours „La leçon de dessin dans l’atelier“. Doch vermisst man tatsächliche Werke von Künstlerinnen. Und im Symbolismus treffen wir dann doch wieder auf rein ästhetisierte, wenngleich fatal bedrohliche oder in Tragik schmachtende Figuren: die junge Schöne als Abgesang auf das Leben.

Henri de Braekeleer - Het Kartspel

Henri de Braekeleer – Het Kartspel

Xavier Mellery - La ronde des heures

Xavier Mellery – La ronde des heures

Dabei ist allein die Sammlung symbolistischer Kunst enorm beeindruckend und an sich schon Grund genug für dieses Museum. Aber die Entdeckungen finden rund um die kanonisierten Werke statt. Die Bilder des Antwerpeners Henri de Braekeleer sind in Belgien durchaus bekannt, doch in Deutschland nicht mal einen Wikipediaeintrag wert. Wie er aus einer neo-barocken Malweise eine pulsierende Auflösung der Fläche gestaltete, welche Details nicht impressionistisch verwischt, sondern sie gar noch akzentuiert, vermag dem Betrachter den Atem zu verschlagen. Es sind am Ende auch diese Momente, welche den Besuch so lohnenswert erscheinen lassen und die Konzeption des Museums rechtfertigen. Denn sie schaffen überall Parallelwelten oder besser: Sie kreieren das Fin de Siècle an sich zur Parrallelwelterzählung einer Moderne, die sich in rasender Geschwindigkeit aufmachte. Eine Moderne, die in Eugène Laermans Tristessen die Verzweiflung der verarmten Arbeiter zeigte, mit den verspielten Experimenten Henri Evenepoels die wohlhabende Strenge des Bürgertums kommentierte oder bei Xavier Mellerys stillen, dann bald glamourös dunklen Visionen ihr eigenes Ende spürte. In diesem Prozess hatte sich der einstige Salon der leichten Muse als „Salon XX“ längst den aktuellsten Experimenten geöffnet und das Magazin „L’art moderne“ berichtete ab 1881 über bildende Kunst, Literatur, Musik. Eine neue Kunstdefinition überschritt alsbald auch akademische Grenzen und die Einbeziehung der Sammlung Gillion Crowet mit ihren Keramikarbeiten, Glasfiguren und Möbeln zollt jener temporären Offenheit Tribut. Bis sie zum hellsten Punkt des Museums führt, um in erschreckender Klarheit das flammende Nachtmahr von Jean Delvilles „Les trésors de Satan“ zu inszenieren. Selbst wenn es bereits 1895 gemalt wurde, ist sein Statement vor den ins 20. Jahrhundert leitenden Werken von Leon Spilliaert, Georges Minne und der Schule von Sint Martens Latem offensichtlich: Alsbald würde die wissenschaftliche Moderne übernehmen, mit Mörsern, Stahlhelmen, Kampfflugzeugen und Giftgas.

René Lalique - La Nature

René Lalique – La Nature

Emile Gallé

Emile Gallé

Neoimpressionismus, Nabis, Symbolismus, Jugendstil, sind sie nicht längst Avantgarden der Moderne? Ist es die spezifische, auf den Expressionismus bauende, Dada sowie die ungegenständliche Kunst Hollands und Russlands favorisierende Perspektive aktueller (deutscher) Kunstgeschichtsschreibung, deren Wertungen bleiernd auf diesen Stilen lasten? Immer noch unausgesprochen die Idee der formalen Revolte im rein Abstrakten oder die einer Verwirklichung der Moderne in der kompletten Absage an alles Gegenständliche im Sinn? Man findet sie hier nicht, wenngleich Wege hin zu jener Freiheit. Doch hatte Kunst je solch ein Ziel? Man kann diese dunklen Räume feixend verlassen und im idealisierenden Eifer einer überzeugten, materialistischen Moderne auf die vermeintlichen Irrwege pfeifen. Der Begriff „Kitsch“ wird beim Abendessen fallen, vielleicht in einer der so urigen Muschelbars der Brüsseler Innenstadt, rund um den Grand Place. Übersehen würde, wie sich die Idee einer Verunsicherung eingeübter Perspektiven, mithin ein Ausgangspunkt der Avantgarden, in ihr Gegenteil verkehrt. Statt Freiheit schuf die retrospektive Wertung einen neuen Klassizismus. Aber wie fort von den Mythen und der Ausweglosigkeit erstarrter Sichtweisen? Man könnte sich von den dunklen Irrwegen des Museums anleiten lassen, wieder Verunsicherung zu erfahren. Natürlich müssen auch die weiteren Kunst-Jahrzehnte, welche das Musée royal d’art moderne in seinem Fundus hat, gezeigt werden, seine beeindruckenden Werke von Paul Delvaux bis Panamarenko. Doch vielleicht bedeutet das Musée Fin de Siècle eine unerwartete Chance. Eine neue Würdigung der mannigfaltigen und oft undogmatischen Entwicklungen, diesseits und jenseits der mächtigen Salons. Im Spielerischen und Verzweifelten der großen Gesten, der Lust am Feiern, dem Wunsch nach Rückzug und im Blick auf das Abwesende und Ausgeblendete erscheint das Fin de Siècle in seiner Kunst bald näher an der Postmoderne unserer Tage, als alle folgenden Jahrzehnte. In dieser Nähe warten Einsichten, nicht jede wird einen erfreuen, aber bereichern (altes Wort, altes Ende).

Fotos: F. Gratz / O. Tepel


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