Christoph M. Loos

Christoph M. Loos


Zwischen Chiasma und Dissimulatio. Das „Sinnsystem“ Baum im Werk des Kölner Künstlers Christoph M. Loos. Ein Portrait von Hauke Ohls.

Bäume sind die Lebewesen des Augenblicks. Wie Wissenschaftler*innen jüngst in einem Fachmagazin vorgestellt haben, kann die (Wieder-)Aufforstung von Wäldern die emittierten Treibhausgase speichern und damit den vom Menschen gemachten Klimawandel verlangsamen. Dass es dabei zu einem Rechenfehler kam, der den Effekt doppelt so kraftvoll erschienen ließ und tatsächlich vielmehr an dem ungezügelten Ausstoß von Klimagasen gearbeitet werden sollte, sind zwar enorme Wermutstropfen, aber dennoch: Bäume rücken in den Fokus und können einen Beitrag leisten, das (Über-)Leben unserer Spezies auf diesem Planeten zu verlängern. Nicht zu vernachlässigen ist, dass Bäume schon immer viele unserer Grundbedürfnisse direkt oder indirekt gestillt hat – sei es durch Reinigung der Luft, als Nahrungslieferant, Bausubstanz oder Brennstoff.

Christoph M. Loos, Autochthon #1, Holzschnitt auf Espenblattholz mit Druckstock, Wandfarbe, Foto: Peter Oszvald, @ Bild-Kunst, Bonn 2019

Diesem so essentiellem Material ist das Hauptwerk des Kölner Künstlers Christoph M. Loos (geb. 1959 in Bad Reichenhall) verschrieben. Bäume und im weiteren Verlauf Holz wird hier zu einem poetischen wie metaphorischen Vehikel. Seine spezielle Methodik des Holzschnitts vermittelt Einblicke in den Grundstoff und zeigt Zusammenhänge auf, die sich mit erkenntnistheoretischen und ontologischen Ansätzen von Materialästhetik, Materialität und New Materialism beschreiben lassen. Loos lässt Bäume hauchdünn sezieren, als würde er dem Stamm keine Jahres- sondern Monatsringe entnehmen wollen. Resultat sind feine, oftmals nur 1,2 Millimeter starke „Blätter“, die vom Baum „radial abgeschält“ wurden und ein zylindrischer Kern, der zum Druckstock wird. Die bedruckten Blatthölzer und der Gegenstand, mit dem gedruckt wird, sind demnach aus ein- und demselben Ausgangsmaterial. Anschließend wird alles zumeist in eine Installation zusammengebracht. Für diese Art der Werkgestaltung adaptiert Loos den phänomenologischen Begriff des „Chiasma“, nach dem Verständnis von Maurice Merleau-Ponty. Ein ausdifferenziertes Konzept, welches Loos in seiner philosophischen Dissertation aus dem Jahr 2015 ausbreitet: Aus dem künstlerischen Schaffen und seiner werkimmanenten Erfahrung entstand eine theoretische Abhandlung.

Christoph M. Loos im Atelier

Wichtig beim „Chiasma“ ist die Untrennbarkeit und die zwangsweise Referenz von zwei Entitäten zueinander, ihre unausweichliche Verflechtung. Diese zirkuläre Vernetzung besteht bei der Präsentation der Werke der „Chiasma-Serie“ nicht nur zwischen dem Blattholz und dem Druckstock – da beide aus einem Ausgangsmaterial stammen – sondern vielmehr aus den Spuren des Holzschnitts auf dem Blattholz, welche mit dem Druckstock aufgebracht wurden, die beide aus einem Stamm, aus einem zuvor verbundenem organischen System hervorgegangen sind.

Christoph M. Loos, Druckstöcke

Interpretiert der französische Philosoph Jean Baudrillard Ende der 1960er Jahre einen Baum noch als „ein Wesen“, weil er autark seine Substanz aus der Erde aufbaut und dabei „lebt, atmet und arbeitet“, wird in den vergangenen Jahrzehnten bei der Beschreibung von dementsprechendem Material philosophische mit naturwissenschaftlicher Forschung verquickt: Im New Materialism hat die Materie eines Baums „selbstorganisierende Potenziale“. Auf allen Ebenen, von den atomaren Grundlagen, über die chemischen Prozesse, bis zur Einheit des massiv ausgebildeten Stamms laufen „intrinsische und transformative Metamorphosen“ ab. Ein Baum ist dementsprechend als ein Gegenstand zu betrachten, der nicht nur aus einer Unzahl von Entitäten besteht, sondern sich ebenso in einem wechselseitigen Verhältnis mit Materialien aller Art befindet. Diese Verbindungen gehen weit über sein eigenes System hinaus, es kommt zu Assemblagen, Netzwerken und Geflechten in einem umfassenden Sinn, wodurch alte Dualismen wie Natur und Kultur oder auch Materie und Form in Frage gestellt werden.

Christoph M. Loos, Opharon (Chiasma #51), 2011, Holzschnitt auf Espenblattholz mit Druckstock, Zweig (phänotypisch), Foto: Peter Oszvald, @ Bild-Kunst, Bonn 2019

Als eines von vielen Werkbeispielen kann Opharôn (Chiasma #51) von Christoph M. Loos herangezogen werden, um mit ästhetischen Mitteln eine Annäherung an solche Materialverknüpfungen zu erhalten. Typisch für die Chiasma-Serie ist auch hier der Druckstock zusammen mit dem Blattholz in eine Installation gebracht, dabei ragen jedoch die Druckstöcke gewissermaßen als Verlängerung unter dem bedruckten Medium hervor, in diesem Fall einem Espenblattholz. Der/die Betrachter*in kann nur spekulieren, ob die Druckstöcke genauso weit unter den Druckuntergrund reichen, wie er von Druckfarbe frei ist, oder ob dies als optische Illusion dient. Auf jeden Fall sind, auf der Ebene der Materialität, die Freiflächen gleichgroß wie die Elemente, die zum Drucken benutzt wurden und im Titel als solche ausgezeichnet sind. Die dunkle Druckfarbe hat beim Auftrag ein abstraktes Muster hinterlassen, welches von der materiellen Beschaffenheit des Druckstocks und des Espenblattholz’ bestimmt ist. Hier scheint ein Teil des materiellen Netzwerks durch, das der New Materialism versucht, zu beschreiben. Es wird deutlich, warum in seinem Zusammenhang immer wieder von selbstorganisierenden und emergenten Systemen die Rede ist. Der komplette Wachstumszyklus des Baums, der von Umweltfaktoren, seinem Standort sowie jeglichen organischen Ereignissen bis hin zum Pilz- und Parasitenbefall abhängt, hat für die kleinen Vertiefungen, Risse und Unebenheiten in seinem Material gesorgt, die während des Druckprozesses zu der fleckigen Oberfläche führen. Natürlich verbleibt dies nicht auf der Ebene des Baums und seines vorherigen Standorts, sondern die menschliche Interaktion, angefangen beim Fällen, dem Abtransport und Weiterverarbeiten und fortgesetzt im künstlerischen Druckprozess, muss notwendigerweise mit hinzugenommen werden. Dies sind keine zwei getrennten Sphären, also Umwelt und Mensch, oder Natur und Kultur, sondern vielmehr neue Verbindungen innerhalb des materiellen Netzwerks, in das der Baum bereits seit seiner Entstehung eingebunden war. Der kleine Holzzweig, der im Titel als „phänotypisch“ bezeichnet wird, stammt von der gleichen Baumart und zeigt nur einmal mehr, dass die unterschiedlichen Stadien stets mitzudenken sind.

Christoph M. Loos, AbbildUrbild-UrbildAbbild #1 2016, Holzschnitt auf Espenblattholz mit Druckstock, Photo vom Druck in zehnfacher Vergrößerung, Foto: Peter Oszvald (Ausschnitt), @ Bild-Kunst, Bonn 2019

Ein weiterer Werkzyklus, der mit gegenseitigen Verschränkungen arbeitet, wird von Loos „Dissimulatio“ genannt. Die drei langen Druckstöcke in Dissimulatio #7 verdecken exakt die Stellen, an welchen die Druckfarbe – der eigentliche Holzschnitt – aufgebracht wurde. Die von Künstler*innen aufgebrachte und vom Publikum betrachtete Farbe war über Jahrhunderte das eigentliche Ereignis der Malerei, die materiellen Begebenheiten sollten so weit wie möglich in den Hintergrund treten. Hier ist die Situation genau umgekehrt, die Farbe ist zwar da, sie entzieht sich jedoch der Wahrnehmbarkeit, die Betrachtenden können sie nur imaginieren. Im Farbauftrag sind die Spuren des Menschen innerhalb des Werks wieder als erweitertes Netzwerk zu betrachten, nicht sichtbar, aber dennoch anwesend. Einen solchen Entzug bei gleichzeitiger Anwesenheit stellen auch die Ideoskope her, Druck und Druckstock sind einander zugewandt, wir sehen nur die Rückseite. Dass die menschliche Perspektive nur eine von unzähligen ist und es diverse andere Möglichkeiten der Betrachtung gibt, wird anhand des Werks AbbildUrbild-UrbildAbbild #1 deutlich. Der Holzschnitt ist auf seiner eigenen Reproduktion angebracht, die zehnfach vergrößert wurde. Zwei unterschiedliche Betrachtungsperspektiven vom selben Objekt fallen simultan zusammen, eine Unmöglichkeit, die durch ein Kunstwerk ermöglicht wird.

Christoph M. Loos, Dissimulatio #7, 2010, Holzschnitt auf Espenblattholz mit Druckstock, Wandfarbe, Foto: Peter Oszvald, @ Bild-Kunst, Bonn 2019

Dass in der abendländischen Geistesgeschichte seit der Antike und dadurch auch in der sich viel später etablierenden Kunstgeschichte die Materialität gegenüber der Form und der Idee herabgesetzt wurde, ist mittlerweile bereits zu einem Gemeinplatz geworden. Die Arbeiten von Loos verdeutlichen nicht nur, dass die Materialität als gleichberechtigter Teil für die Ästhetik der Werke mit einbezogen werden muss, darüber hinaus bieten sie die Gelegenheit, über die permanente Auflösungs- und Neuzusammensetzungsdynamik des Materiellen und über ihre netzwerkartigen Verbindungen zu spekulieren. Die Einblicke in den Grundstoff Holz sind die Möglichkeit einer Metapher über das Gesamtsystem, in dem wir leben und in das wir jederzeit eingebunden sind. Kraftvoll erscheint sie deshalb, da Bäume nicht nur essentiell für unser Leben sind, sondern ebenso das Potential besitzen sollen, ein Teil der Bewältigung der Klimakrise zu sein – daher wird es höchste Zeit, sie differenzierter wahrzunehmen.

Publikationen:
Christoph M. Loos – „Parusia – Die Idee in den Dingen, Werkbuch 2006–2016“, Distanz Verlag, Berlin 2017
Christoph M. Loos – „Eine (Wieder-)Erfindung des Holzschnitts in Resonanz mit Merleau-Pontys Chiasma“, Athena Verlag, Oberhausen 2017

Artikelbild: Chiasma #52, 2012, Holzschnitt auf Espenblattholz mit Druckstock, Blattgold, Autolackspray, Maulbeerbaumpapier, Wandfarbe, Foto: Peter Oszvald, @ VG Bild-Kunst, Bonn 2019


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