Boris Nieslony

Boris Nieslony


Noemi Smolik über Boris Nieslony: das es geschieht. Werkschau eines Halbruhigen 2019 – 1975, Museum Ratingen, Düsseldorf, bis 6.10.2019

Man kennt ihn als Performancekünstler und als unermüdlichen Organisator, zum Beispiel des Konzils, das 1981 zum ersten Mal im Künstlerhaus Stuttgart stattfand, zu dem siebzig Performancekünstlerinnen und -künstler eingeladen waren, um einen Monat lang zusammen zu arbeiten. Man kennt ihn als Initiator der Gruppe Black Market International, die 1985 gegründet wurde, zu der ursprünglich sieben Künstler gehörten, deren Zahl jedoch mit der Zeit stieg, und die 1987 an der documenta 8 teilnahm. Roman Singer oder der tschechische Performer Tomáš Ruller gehörten dieser Gruppe an. Wenn es um Performance geht, ist Boris Nieslony seit fast schon vierzig Jahren immer dabei. Seine Performances entstehen oftmals in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, denn um Austausch, um zwischenmenschliche Begegnungen geht es ihm, daher spricht er so oft vom „Zueinanderkommen“.

Jetzt hat ihm das Museum Ratingen unter der kuratorischen Leitung von Michael Stockhausen eine Werkschau ausgerichtet, die überrascht. Zwar kann man an einigen wenigen Monitoren dokumentarische Aufnahmen seiner Performances verfolgen, doch das Zentrum dieser Ausstellung bilden Collagen, Objekte, Installationen und sogar gemalte Bilder. Denn Nieslony studierte Malerei, zuerst in Berlin dann in Hamburg u.a. bei Gotthard Graubner. In Ratingen sind kleine blaue monochrome Bilder zu sehen, die in einem Labyrinth aus Säulen ausgestellt sind. Es geht um den Farbauftrag, die Dichte der Striche und um Farbnuancen. Die Bilder sind zwischen 1975 und 1980 entstanden. 1980 hörte Nieslony auf zu malen. Er wandte sich der Performance zu.

Doch es war viel früher, schon im Oktober des Jahres 1966, dass Nieslony die Performance entdeckte. Damals lebte er neun Monate in einem öffentlichen Raum und zwar auf dem Georgenplatz in Hannover als Obdachloser innerhalb eines Kreidekreises. Diese Erfahrung brachte ihn zur Kunst, auch wenn er damals seine Aktion noch nicht als „Performance“ verstand. Doch sie hinterließ Spuren, denn in seinen Performances geht es nicht um theatralische Inszenierungen, die heute so angesagt sind, oder um konzeptuell entworfene Folgen von Bewegungen und Handlungen. Es geht immer um tagtägliche Erfahrungen und um den Austausch von Erfahrungen.

Boris Nieslony, Aus dem Projekt „Anthropognostisches Tafelgeschirr“: „tragen“, eine begrifflich/visuelle Untersuchung, Auswahl von 16 Clustern, je 49 Abbildungen auf DIN A4 Foto: Thomas Reul, Ratingen 2019

Doch es sind vor allem die statischen Kunstwerke, die in Ratingen überraschen. Seit Jahren schneidet Nieslony Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften aus. Sie ordnet er dann nicht nach Substantiven, sondern eben als Performancekünstler nach Verben. So folgt die im ersten Raum der Ausstellung gezeigte Fotoserie „tragen“, eine begrifflich/visuelle Untersuchung des gleichnamigen Verbs. Man steht einer Tafel aus sieben übereinander gereihten Folgen von sieben Fotos gegenüber. Die Serie beginnt mit schwangeren Frauen, die ein Kind austragen, es folgen Mütter und Väter, die Kinder tragen. Man geht der Serie nach und plötzlich, ohne dass man die Veränderung merkt, steht man Männern gegenüber, die Verletzte tragen. Wie ein Film entwickelt sich vor dem Auge des Betrachters ein Geschehen, das immer wieder neue Varianten zum Thema „tragen“ bietet. So das Tragen von Frisuren über das Tragen von Hüten bis zum Tragen von Kronen. Dabei sind die einzelnen Bilder so zueinander und nebeneinander angeordnet, dass sie nicht nur begrifflich, sondern auch formal und farbig eine spannende Abfolge bieten. Es sind in Tradition von Aby Warburg bildspezifische Untersuchungen, die Nieslony, schon Jahre bevor sie die Bildwissenschaften populär machten, durchführte.

Gerhard Dirmoser u. Boris Nieslony: „Kontext in Performance Art“, begehbare Bodenarbeit, 5 x 8 m, 2017 Ausgearbeitet von 1999 bis 2001, seitdem mehrfach abgedruckt Foto: Thomas Reul, Ratingen 2019

Im nächsten Raum dann liegt eine große weiße Plane auf dem Boden. Sie ist mit Sätzen, Worten, Daten und Literaturhinweisen bedruckt, die zu einem Kreis in zweimal 32 thematische Sektionen angeordnet sind. Sie alle beziehen sich auf den Kosmos der Performance. Das Ganze sieht aus wie ein wissenschaftliches Diagramm – kein Wunder, denn die Plane entstand zwischen 1999 und 2001 in der Zusammenarbeit mit dem Informatiker Gerhard Dirmoser. Inzwischen wird dieses Diagramm auch von Kunsthistorikern benutzt.

An den Wänden dann eine weitere Bildserie mit dem Titel Das Zueinander zwischen A-Z, die dem auf Jahre angelegtem Projekt „Anthropognostisches Tafelgeschirr“ angehört. Hier werden alphabetisch angeordnete Begriffe von Zitaten und Bildern auf DIN A4 Bögen begleitet. „A“ steht u.a. für Hannah Arendt, „P“ beispielsweise für Plastikbeutel, „Z“ für Zorn. Wichtig ist Nieslony bei „S“ das Staunen, denn für ihn beginnt, wie schon der griechische Philosoph Platon schrieb, im Staunen das Nachdenken.

1980 fängt Nieslony Gegenstände, die ihn, wie er selbst sagt, „zu bannen begannen“, in seinem Atelier auf einem Holztisch zu ordnen an. Bald reichte der Tisch nicht mehr aus und er verlagert sich auf Fachbodenregale aus verzinktem Stahl. Hieraus ist die stetig wachsende Installation „Das Paradies“ entstanden, die in Ratingen in ihrer weitesten Ausprägung zu sehen ist. Es sind überwiegend Gegenstände aus Glas – ein Material, mit dem sich der Künstler seit Jahren beschäftigt und in dem er auch menschliche Parallelen sieht. Denn kann Glas kann zerspringen oder -brechen und ist damit der Seele ähnlich. Glassplitter, Gläser, Spiegel reflektieren und brechen das Licht, Spulen, Holzobjekte, Zahnräder sorgen für Beständigkeit in dieser von Licht und Reflektion durchdrungenen Installation.

Boris Nieslony, „Das Paradies“, seit 1980 Installation, diverse Materialien und Gegenstände Foto: Thomas Reul, Ratingen 2019

Boris Nieslony, „Das Paradies“, seit 1980 Installation, diverse Materialien und Gegenstände Foto: Thomas Reul, Ratingen 2019

In den letzten Jahren entbrannte unter den Philosophen eine Diskussion über die Unterordnung des Objekts unter das erkennende Subjekt, wie sie Kant in seiner Philosophie definierte. Diese Strömung in der Philosophie, die sich „Spekulativer Realismus“ nennt, kritisiert die privilegierte Stellung des Subjekts gegenüber dem Objekt und plädiert für eine Emanzipation des Objekts und einen Dialog zwischen den beiden auf gleicher Augenhöhe. Wie dieser Dialog auf einer visuellen Ebene aussehen könnte, zeigt Nieslonys Installation, in der Objekte zu Subjekten werden und den Betrachter zum Dialog herausfordern.

Boris Nieslony, Archivboxen mit Grundmaterial und Zwischenergebnissen einiger Langzeitprojekte, Entwürfe, diverse Medien der DIN A4-Kultur Foto: Thomas Reul, Ratingen 2019

Boris Nieslony, „Menschen, den ich gerne begegnen möchte“, Serie seit 1969, Cut-Outs, Foto: Roland Regner, Ratingen 2019

Im hinteren Ausstellungsraum schließlich sind drei blockhafte Holzregale eingebaut, die einige Ordner aus Nieslonys Archiv aufbewahren – mit schier endlosem Material. Das Archivarische ist ein wichtiger Teil seiner künstlerischen Praxis – und seines Lebens. Gründete, betreut und entwickelt er doch seit 1981 ein international besuchtes Archiv zur Performance-Kunst, „Die Schwarze Lade“ genannt, welches in Köln-Poll für alle Interessierten geöffnet ist. In einer Ecke sind bearbeitete Fotos zum Thema Tod zu sehen, die der Frage nachgehen, welche Bilder von zerstörten Körpern dem Auge noch zu zu muten sind.
Die Ausstellung in Ratingen macht süchtig nach Bildern, die die Wahrnehmung schärfen und die Differenzierung anregen. Man kann nur hoffen, dass bald weitere Ausstellungen folgen werden, die den Blick in Nieslonys scheinbar unendliche Wunderkammer des Bildes vertiefen: man kann nur hoffen, „das es geschieht“ – bald!

Artikelbild: Detailansicht von P, R, S aus: Boris Nieslony, „Das Zueinander zwischen A–Z“, 2019, Diverse Medien, Foto: Thomas Reul, Ratingen 2019


tags: , , ,