Walid Raad & SITU Studio

Walid Raad & SITU Studio


Bettina Haiss über „Those that are near. Those that are far“ in der Synagoge Stommeln, bis 25.9.16

Die Fenster der Synagoge in Stommeln sind von außen nahezu lückenlos mit Holzplanken verriegelt. Das so hermetisch verschlossene Gebäude verwehrt den Blick in das Innere, verweigert den Zugang. Der Besucher wird angehalten, die zugenagelten Fenster wie ein Verbot bzw. warnende Botschaft im Sinne eines „Betreten strengstens untersagt“ aufzufassen. Zugleich wird durch die Verbarrikadierung die Grenze zwischen Innenraum und Außenbereich markiert und in doppelter Hinsicht mit Bedeutung aufgeladen. Als Abschreckungs- bzw. Schutzmaßnahme signalisiert sie, dass die andere Seite sowohl eine Gefahr als auch ein Geheimnis bereithalten kann. Sie vermittelt Vorsicht, aber auch die Versuchung, das Verborgene zu entdecken und aufzudecken.

Wie so oft erweist sich also das Abweisende zugleich als anziehend, insbesondere, wenn die Eingangstür des Gebäudes einen Spalt breit offen steht. Durch ein vorgelagertes Brett aus Spanplatte ist auch der Eingang zum Versammlungsraum nicht passierbar: einzig die seitliche Treppe ermöglicht das Betreten der Empore, die in früheren Zeiten den Frauen vorbehalten war. Ratsam ist es, die Tür hinter sich zu schließen und langsam die hölzernen Stufen zu besteigen. Während sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, nimmt man den mineralischen Geruch wahr, der die klamme Luft sättigt. Den erhöhten Standpunkt erreicht, wird der Blick in den Raum hinunter gelenkt, der mit lehmiger Erde aufgeschüttet ist. Bis unter die Fenster häufen sich die Erdmassen, Erhebungen wechseln sich mit Vertiefungen ab.

Im hinteren Bereich des Raumes befindet sich an zentraler Stelle eine in die Erde eingelassene Öffnung, aus der eine Glühbirne helles Licht ausstrahlt. Über diesen schmalen Schacht, der durch das Erdreich in eine unbestimmbare Tiefe führt, steht ein Dreibein mit einem Seilzug, der Gegenstände und Personen in den Untergrund zu befördern scheint. An einigen eingeebneten Stellen im umgebenden Erdboden zeichnen sich rechtwinklige Abdrücke in geometrischer Exaktheit ab, teilweise mit kreuzförmigen Verstrebungen. Sie zeugen von den Böden schwerer Holzkisten, die hier in gerader Anordnung gelagert oder einfach temporär abgestellt worden waren. Über ihren Inhalt und ihren Verbleib gibt es keinerlei Indizien, es bleibt einzig der Verweis auf vormalige menschliche Aktivität, durch welche die Kisten ihre Spuren hinterlassen haben. In dieser Anwesenheit in der Abwesenheit wird der Ort zur Transitzone, zur Durchgangsstation, zum unbestimmbaren Zwischenreich.

Walid Raad & SITU Studio - Those that are near. Those that are far - Stommeln2016 - Foto Werner J. Hannappel (2).jpg

Umgeben von Stille und angesichts der hell scheinenden Öffnung im Hintergrund stellen sich hier viele Fragen die unbeantwortet bleiben und stattdessen Assoziationen anregen: Wird hier ein Szenario politischer Flucht und Verfolgung oder ein Versteck von Schmugglern angedeutet? Geht es um einen Ausweg, um einen lebensrettenden Tunnel, der in die Freiheit führt oder handelt es sich um verborgene Routen illegalen Güterverkehrs? Führt der Gang in eine Falle? Befindet sich am Ende eines geheimen Traktes ein Versteck für Raubgut oder ein Lager für erlöste Kulturgüter? Erstaunlich ist, dass keinerlei Hinweise auf ein dramatisches Geschehen gegeben sind, die etwa auf einen überstürzten Aufbruch oder eine gewaltsame Vertreibung schließen lassen. Weder panisch gedrängte Fußabdrücke noch sonstige Spuren von Bewegung und unruhiger Tätigkeit sind im Erdreich sichtbar. Durch dieses Ausbleiben von lesbaren Anhaltspunkten, die eine Rekonstruktion der Narration möglich machen, setzt ein Gefühl der Betroffenheit und zugleich Hilflosigkeit ein. Dem ungewissen Ausgang der Geschichte ausgeliefert, erkennt der Besucher in dem erleuchteten Schacht einen Hoffnungsschimmer, der in der unheimlichen Ruhe eine nahezu sakrale Symbolkraft entfaltet. Überhaupt verleiht ihre statisch-statuarische Anmutung der Installation die Zeitlosigkeit eines Denk- oder Mahnmals, welches sich über die konkrete Einzelsituation erhebt und sinnbildhaft für das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit und Freiheit steht.

Mit minimalistischen Mitteln erzeugt der libanesische Künstler Walid Raad (geboren 1967) eine Atmosphäre intensiver, beinahe andächtiger Konzentriertheit, in man als Betrachter auf sich zurückgeworfen wird, und in der man auch ein verschärftes Bewußtsein für den Raum in seiner ehemaligen Funktion als Gebetsraum erlangt. Eindrücke von archäologischen Stätten oder Grabfelder stellen sich zudem ein, so dass die naheliegende Frage – Wohin sind die Menschen gegangen? – , gerade vor dem historischen Hintergrund der Synagoge und der Berücksichtigung des Schicksals der in Stommeln vormals ansässigen jüdischen Gemeinde, zur Auseinandersetzung mit existenziellen Themen wie Verbleib und Verlust, Erinnern und Vergessen, Gegenwart und Vergangenheit anregt. Das ergreifende Raumerlebnis wird zur –selten genug erlebten! -quasi religiösen Erfahrung, in der man mit den Verschwundenen kommuniziert, ja vereint wird, so dass das Hier und Jetzt der eigenen Realität mit einer vergangenen und vielleicht verlorenen Existenz in ein Zwiegespräch tritt. Darauf wird wohl auch der Titel des gemeinsam mit dem New Yorker SITU Studio ausgeführten Projekts: Those that are near. Those that are far Bezug nehmen. Im Kontext allgegenwärtiger kriegerischer Auseinandersetzungen und weltweit verbreiteter Fluchtbewegungen werden Begriffe wie Heimat und Exil aber auch Vertrautheit und Fremdheit, sowie Nähe und Ferne relativ.

Walid Raad, der zu den Gründungsmitgliedern der Akademie der Künste der Welt in Köln zählt und mit der von ihm 1999 gegründeten und der Erforschung, Dokumentation und Archivierung libanesischer Geschichte gewidmeten Atlas Group weltweite Anerkennung erlangte, geleitet den Betrachter an der versiegelten Fassade des Gebäudes durch den Nebenweg über die Treppe gleichsam zu einer Offenbarung, die sich in der im Inneren verborgenen Öffnung zeigt. Die Strahlkraft des Lichts, welches aus dem Tunnel heraus den dunklen Raum erhellt, wird zusammen mit dem Seilzug als Motiv für Bewegung und Beförderung zur symbolischen Manifestation von Hoffnung und Erlösung. Das Gebäude der Synagoge erscheint so wie ein geschlossener Schrein, der als kostbarstes Gut die Öffnung zum Licht und damit Möglichkeit zur Überwindung jeglicher Unterdrückung enthält. Man könnte sogar den Fußweg vom Bahnhof Stommeln zur Hauptstraße, den Eintritt durch den schmalen Gang zwischen den Häusern, der sich wie ein Schleichweg öffnet, wie eine Prozession oder eine Pilgerroute auffassen, an deren Ende das Heiligtum erreicht wird.

Als möglicher Deutungsansatz und Ausblick dieser zutiefst einfühlsamen Präsentation, kann daher festgehalten werden, dass die Freiheit nicht durch Abschottung und Abwehr gewährleistet wird, sondern im offenen Austausch liegt. In ihrer Eröffnungsrede formulierte Almút Sh. Bruckstein treffend: „Was ist ein Haus? Die Rabbinen geben darauf eine großartige Antwort: Ein Zuhause wird nicht durch sein Dach, seine Wände, oder seine Fenster definiert, sondern durch seine Tür. Wo eine Öffnung ist, da ist ein Haus. Braucht es für ein Zuhause Wände oder Mauern? Ja, sagen die Rabbinen, aber nur so viel, um die Öffnung des Hauses sichtbar zu machen. Also fast nichts.“

Fotos: Werner J. Hannappel


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