Die ewige Proklama­tion des Sünden­falls

Die ewige Proklama­tion des Sünden­falls


Oliver Tepel über Marianne Stokes‘ Tafelbild „Snow White“, 1900, 72 x 95 cm, Mischtechnik, Papier auf Holz im Wallraf-Richartz-Museum, Köln

Ein Schneewittchenschlaf? Viele unterstellen dies der Kunst unserer Tage. Dabei hat sich die Kunst in den letzten Jahren enorm geändert, schnell, drastisch, wahrscheinlich nachhaltig. Nur, man hat es ihr kaum angesehen, weder erblühte rotwangige Lebendigkeit, noch verweste der Korpus. Der allgemeine Wandel erschien als Schrumpfen allenthalben. Sichtbar in der Größe von Speichermedien, spürbar als Bedeutungsverlust von Popmusik, verlorenem Vertrauen in Politik und Medien, sowie dem Verklingen gesellschaftlicher Utopien. Nur die Umsätze schrumpften nicht, sie wuchsen. Korrelationen zwischen den Befunden liegen nah, doch was an dieser Stelle interessiert, ist, daß der Kunstmarkt sich ebenfalls ausdehnte und in seiner Praxis neuen Einfluss auf die Kunstproduktion bekam.

Ein seltsames Miteinander aus Idealismus und dem (gar nicht verwerflichen) Wunsch nach finanzieller Absicherung lässt Künstler nach Partizipation suchen. Um sie herum, gar nicht mal fern des Marktes, gedeiht derweil eine enorme Welle der Kritik, sie fordert vor allem: Ecken, Kanten oder Intellektualität (und meint oft genug, dass beides nur zusammen zu haben sei). Nicht intellektuell scheint das Nette, und schuldig an all dem Netten wird dann oft Jeff Koons gesprochen. Vielleicht weil er stellvertretend für jene Postmoderne steht, die einst von Konservativen und heute in der gesamten Breite politischer Perspektiven als Ende der guten Kunst verstanden wird – gute Kunst, die entweder intellektuell oder zumindest schwierig sein muss oder zumindest entsprechende Signifikanten vorweisen kann – „nicht schmückend“ wäre ein Solcher. Verheißt das Symbol „nicht schmückend“ doch Widerstand. Dagegen fördert der Markt offenbar das Schmückende und Nichtssagende. Vielleicht fördert er aber vor allem eines: Trends.

Einige der bekanntesten Künstler gestalteten dieses schmückende Nette, oft, um es mit bedeutungsvollen Worten etwas nachlässig einzukleiden. Sie machten „irgendwas mit Licht, Raum und Urbanität als Dispositiv“ – irre Erkenntnisse erwarteten wahrscheinlich denjenigen, der es nur recht zu betrachten und durchdenken vermochte. Tatsächlich wirkte diese Auflösung auch rückwärts, knabberte an der späten Moderne, entlarvte dabei einige ihrer Mythen, ungewollt, einfach in Folge eines gewissen Habitus mit dem sich Kunst auch nach Warhol, Kippenberger und Koons immer noch am Besten verkaufen lässt. Doch was auf der Leinwand einst Räume auflöste, Flächen auslotete, Farben befragte und Bedeutungen in Strukturen wandelte, was formale Grenzen suchte und überschritt, um zu sehen, wer denn Angst davor habe, das ist heute längst erstarrt, überzogen von einer Glasur aus Sätzen – Bestimmung und Rechtfertigung zugleich. In den letzten Jahren kam auch eine andere Linie der Argumentation zu neuer Popularität: der Blick müsse nur gebildet oder sensibel genug sein, um zu erkennen. Ja, das kann sein. Doch Sensitivität ist nicht quantifizierbar und die Manifestation gebildeter Macht („Streng Dich an, mich zu verstehen!“) mag ebenso mit „nice“ oder „oh“ und „ah“ gebrochen werden, hoffnungslos der Kraft des beiläufigen Blicks unterlegen.

Stokes, Marianne, Schneewittchen, Mischtechnik, Papier : Holz (Köln, Wallraf-Richartz-Museum + Fondation Corboud, WRM 3624. (Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_c019533)

Marianne Stokes, Schneewittchen, Mischtechnik, Papier: Holz (Köln, Wallraf-Richartz-Museum + Fondation Corboud, WRM 3624. (Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_c019533)

„Oh“ und „ah“ sagten auch die sieben Burschen, denen sich die flüchtige Schneewittchen als Hausgesellin vorstellte, nicht „nice“ jedoch, sondern eher „gorgeous“. Ein Wesen, für das sie bereit waren, ihr Leben zu ändern. Eine Bereicherung, ein ideales Kunstwerk also. Nun liegt es da, hinter Glas. Ein Jammer. Wie kam sie dahin?

Das Märchen berichtet von der Verbannung der Schönheit. Einer gar nicht mal klassizistischen Schönheit. „So weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz“ wirkt ihre Erscheinung eher verletzlich und sehnsuchtsvoll exotisch, als einem weniger kontrastreichen und in Mitteleuropa zumeist doch blonden Ideal folgend. Schneewittchen ist anders, auffallend anders, wie der weise Spiegel der Schwiegermutter verheißt, sie kann sich in diesem Schneewittchen nicht erkennen, es muss fort, verschwinden und zugleich rituell geopfert werden. Ihr Schicksal erinnert an das der jungen Frau im „Gastmahl des Nastagio degli Onesti“ aus Giovanni Boccachios „Dekameron“, welches Sandro Botticelli in einen einprägsam verwirrenden Bilderzyklus übersetzte. Der Leichnam, der durch den Blick Anderer schuldig Gewordenen, muss ausgeweidet werden. „Venus öffnen“, heisst es bei Georges Didi-Huberman. Doch Schneewittchen entgeht dem, was Didi-Huberman als Resulat aus der Konfrontation von reiner Schönheit und deren potenzieller Befleckung als „Sog des scharfen Schnittes“ bezeichnet. Denn ihre Schönheit, vor allem aber ihre reinen Tränen rühren den zum Mörder auserkorenen Jäger, er lässt sie ziehen mit dem Versprechen, nie wieder zurückzukehren. Eine enorme Finte in dieser, seit jeher auf einem Kurzschlussmotiv aus Anziehung und Abstoßung basierenden Geschichte. Aber nun erst wirkt die zweite Finte: die des hier bösartigen Gewissens, der Spiegel, als psychoanalytisch enorm vielfältiger Charakter verkündet Schneewittchens Überleben, auch nach dem, dank ihrer neuen Mitbewohner, den sieben Zwergen, vereitelten Versuch einer Erdrosselung. Dennoch wird sie vergiftet, von der roten Seite des Apfels. Die Wirkung der Farben bestimmt abermals Schneewittchens Schicksal, denn ihre Wangen sind noch rot und die Zwerge beschließen, sie nicht zu begraben. „Sie sprachen: »Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken«, und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, dass man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf und dass es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Schneewittchen, erst eine Eule dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen. Nun lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe“ – so steht es in Grimms Version und dieser Passus findet sich ebenfalls am unteren Rand von Marianne Stokes „Snow White“ welches irgendwann zwischen 1880 und 1890 entstand.

Marianne Stokes Snow White

Stokes Karriere selbst, war zu dieser Zeit – vergegenwärtigt man sich die Chancen für Künstlerinnen ihrer Zeit – schon als märchenhaft zu bezeichnen. Die 1855 als Marianne Preindlsberger in Graz Geborene, studierte an der Münchner Kunstakademie. Sie folgte als einer von Wenigen Marie Ellenrieder, 1813 der ersten Studentin der Münchner Kunstakademie und – wen wundert’s – einzigen Frau unter den Nazarenern, jener ersten modernen Kunstbewegung in Deutschland. In der Historie erscheint Marie Ellenrieder selbst als Schneewittchen, deren Tränen Professor Johann Peter von Langer erweichten, sie zum Studium zuzulassen. Tatsächlich vielleicht aber eher die Rechtfertigung einer paternalen Geste als empfindsame Gnade: der große Vater hat kein Herz aus Stein – er gestattet. Noch etwas pointierter könnte man sagen: „er vergibt“ oder „er wurde verführt“, die Unschuld hat keine Chance, was auch immer sie tut, es wird ihr als Schuld angerechnet: Venus öffnen und vertilgen.

Nicht viel freundlicher wird das Klima gewesen sein, in dem Marianne Preindlsberger studierte, denn offiziell war es bereits wieder verboten, zum Ersatz war eine „weibliche Abteilung“ der „Königlichen Kunstgewerbeschule“ eingerichtet worden, die aber eher Ausbildung zur Zeichenlehrerin war, statt gleichwertiges Kunststudium. Doch Marianne Stokes gewinnt mit ihrer Kunst einen Preis und kann sich darüber ein Stipendium in Frankreich leisten, wo sie sich mit der finnischen Malerin Helene Schjerfbeck anfreundet. Gemeinsam suchen sie nach Plein Air Motiven. Ihr sozialrealistischer Stil findet ein Echo in den Schule von Pont-Aven, der sich die beiden Künstlerinnen anschließen und in der Marianne Preindlsberger 1883 den Maler Adrian Stokes kennenlernt.

Sie heiraten, verbringen gemeinsame Sommer bei den Skagenmalern in Dänemark und ziehen nach Cornwall, wieder in einer Künstlerkolonie, die von St. Ives, deren Präsident Adrian Stokes wird. Scheinbar im Gleichklang mit der aktuellen britischen Malerei ändert sich Marianne Stokes Stil um 1890. Inmitten der Freilichtmalerei von Cornwall verabschiedet sie sich von den aktuellen, um Abgrenzung ringenden Auseinandersetzungen mit dem Impressionismus. Ihre Liebe zum Detail, ja zum Ornamentalen und ihre eher statischen Figuren fügen sich weit besser in das Revival spätmittelalterlicher Malerei in Folge der Präraffaeliten. Nun prägt ein symbolistischer Gestus ihre Werke, Einflüsse des Jugendstils werden erkennbar.

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Marianne Stokes, geboren 1855 in Graz, gestorben 1927 in London (mögliches Selbstportrait)

Stokes „Schneewittchen“ bezeugt diese Entwicklung. Ein ungefähr 120° messender, nicht ganz runder Bogen beschliesst und formt den oberen Bildrand. Man könnte ihn im Sinne der Komposition nahezu als „Spannungsbogen“ bezeichnen, wenn dieser Begriff nicht viel zu grob für die melancholische Kontemplation der Szenerie wäre. Eine Diagonale durchzieht mittig das Werk, auf ihrer Linie ganz im Zentrum Schneewittchens Sarg oben und unten, beziehungsweise rechts und links an ihn gelehnt, drei trauernd wachende Zwerge. Die untere Hälfte des Sarges ist von einem weissen, mit skarabäusartigen Symbolen bedruckten Tuch verhangen, beide Elemente bilden ein liegendes „L“, welches die Diagonale mittig durchkreuzt. Ein an den Sarg gelehntes Wappenschild stützt das „L“. All diese Elemente lassen den Blick in Uhrzeigerrichtung im Oval langsam durch den Bildraum kreisen. Hier entdeckt man ein vorsichtig hinter Bäumen schreitendes Reh, dort, die auf einem Zweig harrende Eule aus dem grimmschen Text. Es ist also noch zum Beginn der Trauer.

Format und Texteinfügung scheinen darauf hinzudeuten, dass es sich um eine Illustration handelt oder zumindest um das Werk eines Zyklus. Doch ist kein weiteres „Schneewittchen“-Gemälde bekannt. Dies soll nichts heissen, Stokes Leben und Schaffen sind nicht erfüllend erforscht. So sensationell jede Karriere einer Malerin, insbesondere in der frühen Moderne, so wirksam doch zugleich die Ausgrenzugsmechanismen einer männlich dominierten Kunstwelt und nicht zuletzt auch die kunsthistorischer Wertungen, in deren Erzählung der Moderne Erscheinungen, wie jene der britischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts nur als Randerscheinung gelten. Und es stimmt, die aufkommende Avantgarde sammelte sich an anderen Orten. Doch eine entsprechend fokussierte Perspektive landet dann in schulterzuckender Verwunderung vor Stokes Bild, welches in der Neugestaltung des Ausstellungsbereichs „19. Jahrhundert“ im Souterrain des Wallrafs unter der Überschrift „Von den Welten hinter der Welt“ tatsächlich in eine Art Sackgasse mündet. Eine, aus welcher in der vollendeten Postmoderne unserer Tage Ausstellungen, wie die zur Schwarzen Romantik im Städel und Musee d’Orsay, Studien, wie jene von Dorothee Gerkens zur britischen Elfenmalerei und nicht zuletzt Aspekte im Werk von Künstlern, wie Lucy McKenzie oder Claus Richter sie ganz allmählich zu befreien scheinen.

Respekt vor dem Sujet des Werks wäre hier ein hilfreicher Schritt. So gerne Kinder in der Ausstellung vor Stokes Bild stehenbleiben, so schnell ziehen viele andere Besucher weiter (das zumindest der Eindruck bei der Vorbereitung auf diesen Text). Da es bei aktueller Wissenslage geboten ist, das Bild als Einzelwerk anzusehen, verblüfft die Szene umso mehr, da sie auf eine Leerstelle in Märchenerzählungen weist: in deren geraffter Handlungsintensität fehlen Momente der Ruhe und so bildreich die Beschreibungen in der Vorstellung auch wirken, so ökonomisch ist doch meist die Sprache. „Erst eine Eule“ – dieser nicht weiter beschriebene Moment wird hier ausgeführt in all seiner Bestürzung, Stille und Seltsamkeit. Stokes bettet Schneewittchens Kopf auf ein fein besticktes Kissen, ein Blütenkranz schmückt ihre Haare, in Verbindung mit ihren gefalteten Händen eine deutliche Jesus-Symbolik. Ein Politikum, welches der die Präraffaeliten bewundernde Pier Paolo Pasolini in diversen seiner Filme aufgriff. Demgegenüber: nicht genuin christlicher Symbolik entstammende Ornamente und Muster, wie im Block auf dem der Sarg ruht, eine Variante der besonders in nordeuropäischen Kulturen zu findenden Triskele. Weist das Spiel mit Symbolen in eine verhängnisvolle Richtung? – Wo Stokes Werk politisch ist, da in der Emphase auf Unschuld und auf die Akzentuierung der Tradition. Wohl möglich, dass ihr Denken dem britischen Kunst- und Sozial-Theoretiker und maßgeblichem Förderer der Präraffaeliten John Ruskin nahestand. Zugleich war jene Form einer Kritik der Industriegesellschaft dermassen vom Retro-Gestus durchzogen, dessen Appell weit mehr mit Phänomenen in der Pop-Kultur, als der Strenge eines akademischen Diskurses gemein hat. Was keinesfalls dessen Ernsthaftigkeit bezweifeln mag, sondern eher einer Perspektive Raum geben will, die künstlerisches Schaffen als reflektiert, wie doch zugleich von Trends geprägt versteht.

Ein genauerer Blick auf „Schneewittchen“ lässt kreisförmige Druckspuren auf dem Malgrund erkennen. Die Ausgestaltung wechselt von einer präzisen Detailfülle zu einem effektvoll groben Farbauftrag bei der Darstellung des Bodens und Teilen der Bäume. Der geschriebene Text wurde nachträglich auf das Bild aufgebracht und dies nicht mit äusserster Präzision, es scheint, genau dieser Effekt des Unregelmässigen sei gesucht – durchaus denkbar, im besten „Retro“-Sinn. Diese Widersprüche aus Ernst und Spielfreude, Trend und Politik vereint Marianne Stokes Werk derart, dass schon ein leichter Impuls die Stille des Sujets übertönen könnte, eine tosende Unruhe heraufbeschwörend, die im falschen Augenblick das Bild durchschneidet, gleich einer futuristischen Eisenbahn und den fragilen Ernst der Szene im Wald jener Lächerlichkeit Preis gibt, die Fortschrittsapologeten stets allem als naiv Bewerteten entgegenbringen. Dabei hatte „Schneewittchen“ auch in der entwickelten Moderne Präsenz, wurde in der Royal Academy Winter Exhibition von 1923 nochmals öffentlich gezeigt. Danach verschwand es aus dem Kern-Inventar der Moderne, wurde, nicht ohne Dazutun des Kunstmarkts, zum seltsamen Anhängsel. Seine Unschuld war eh längst keine politische Option mehr. Dieser Pfad der Moderne mit seinen erträumten Manufakturen in denen jedes hergestellte Ding ein Kunstwerk für sich war, wurde nie ernsthafter Antagonist industrieller Effizienz. Allein die unterschiedlichen Aussteiger-Bewegungen hingen jenen Konzepten nach und es ist kein Zufall, dass sich die Hippies in ihrer Ästhetik von den Präraffaeliten und dem Jugendstil inspirieren ließen.

Die Realität der Kunstmärkte wies Künstlern wie Stokes bald die Rolle von Liebhaberstücken auf Auktionen zu, die Erzählung der Moderne verfolgte den Zeitpfeil hin zur umfassenden Abstraktion, einem forschenden Austesten dessen, was formal auf dem Malgrund möglich ist. Derzeit dominiert großformatige abstrakte Malerei einen guten Teil der finanziell erfolgreichen jungen Kunst. Dass in diesen Werken jener Pathos der Moderne auch nur noch als Retro-Geste fungiert, scheint den Kreis zu schließen. Nun ist der idealisierte Bezugspunkt nicht die unterstellte Reinheit der Frührenaissance, sondern die Freiheit der Abstraktion. Der Preis beider Gesten ist, dass der Verlust eines Fundaments offenbar wird. Ihre Chancen sind (und waren stets) die der Neubesetzung der Objekte und Stile im euphorischen Missverstehen ihrer Quellen. Was nicht mehr so recht Sinn macht, mag von der eingangs erwähnten Glasur aus Bestimmungen und Rechtfertigungen konserviert werden oder es verbleibt als einfach nur schick, aber lebt immerhin und wird mitunter sogar Träger neuer Botschaften. Dieses Konzept der Modernität war der Avantgarde fremd. Aber jene, vom Fortschritt bewegte, die wie Marianne Stokes vielen seiner materiellen Utopien entsagten, ahnten es. So ist „Snow White“ ein Spiel mit klassizistischen Gesten. Einige werden gezielt variiert (die Jesus Andeutungen) andere idealisieren eine selbstgewählte Traditionslinie. Retro, zwischen Reenactment und Pose, ein fast postmodernes Spiel mit dem Zeitpfeil, unterschätzt als eine Selbstermächtigung ohne das große „Ich“ der Avantgarden. Auch sie glaubten an eine Zukunft, eine, die es zu bewegen galt, dass auch ihre Perspektive im Geist der Zeit lag, also ebenso Teil eines Trends war, sollte vielleicht nicht vergessen werden.

Doch alles Reden ist sinnlos, denn am gläsernen Sarg zerschellt die Theorie. Man kann versuchen, wie mir wohl selbst passiert, Schneewittchen die Theorie gleich einem verwunschenen Apfel aufzudrängen, wohlwissend, dass stets eine Seite vergiftet sein wird und hoffen, die junge Dame mag sich nur an der guten Seite nähren. Tatsächlich liegt ihr Reiz zwischen Leben und Tod, Gestern und Morgen. So ist es letztlich egal, am Ende widersteht die Märchenfigur der Vereinnahmung, ihre Geschichte ist erzählt, sie überlebt. Anders als die Geschichten so vieler (und zugleich doch so weniger!) Künstlerinnen in der patriarchalen Gesellschaft. Wir müssen immer noch lernen, von ihnen zu berichten und sie dabei nicht auszuweiden. Ein Schritt ins Licht, ein Statement und keine Selbstbefleckung, wie es uns manche Malerfürsten immer noch glauben machen wollen. Eine Kunst als Befreiung von den Dogmen üblicher Erzählungen der Moderne, welche selbst Malerinnen der Avantgarde, wie Hilma af Klint, Lee Krasner oder Bridget Riley an den Rand drängen. Aber so leider auch eine Kunst des Verschwindens. Hut ab vor Marianne Stokes!


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