Eigenleuchten

Eigenleuchten


Oliver Tepel über Mevlana Lipp „Basic Instinct“ im ak RAUM, Köln, bis 20.7.19

Wir treiben in die Weiten des Nichts.

– das ist aufregend und auch beängstigend. So beängstigend, dass einiges dazu gehört, dieses Befinden als alltäglichen Zustand zu ertragen. Verschwinden doch fortwährend Begriffe, Wertungen und Zuordnungen. Sie werden in hektischer Umtriebigkeit durch Neue ersetzt, dass diese neuen Ordnungshilfen existieren, ist wichtiger als das, was sie besagen. Seit 20 Jahren verfolgt die Kunst diese gesellschaftlichen Prozesse und vermag sich doch nicht für sie zu begeistern. Keine Straßencafés, keine, zusehends bürgerliche Freiheiten gewinnende, flanierende Frauen, Tanzende oder sich in der Öffentlichkeit küssende Liebespaare, weder Freude am Körper noch Lob der Freizeit und der Möglichkeiten individueller oder politischer Mitgestaltung der Verhältnisse, welche die Moderne zu ihrem Beginn einfing, nichts gibt es heute zu feiern. Keine formalen Aufbrüche und Abenteuer, sondern die strikt formal zuweisende Kamasutraisierung des Künstlers zu einer „Position“ prägte die jüngere Vergangenheit. Doch leid geworden, sich immer neue, immer blödere Labels (solche wie „post internet take on pre millenial minimalism“) ausdenken zu müssen, kamen die Positionen aus der Mode und heute „beschäftigen sich“ Künstler mit etwas. Etwa mit „konzeptuellen Bedeutungen und Möglichkeiten, die sich durch flüchtige Bildträger ergeben“, mit „der Fotografie im Zeitalter von Smartphones und sozialen Netzwerkenden“, „dem Wesen der Urbanität“, „mit popkultureller Repräsentation von Geschlecht, Sprache und Identität“ und „Problemen der Wahrnehmung und der Repräsentation“. Tatsächlich ein Spiegel aktueller Fragen und Anliegen, doch oftmals wenig konkret dargeboten als, nun ja, als Beschäftigungstherapie: Kreisen um einen Berg aus Fragen, zu müde doch, sich aufzurappeln, ihn zu untertunneln oder erklimmen, sondern verharrend im Achselzucken harmloser Beobachtungen oder berechenbarer Gedanken zum allzu Alltäglich erscheinenden. Brav ein „ja, auch ich“ zu den aktuellen Debatten addierend, wo Erstaunen, Schrecken oder Begeisterung die Betrachter an die Werke binden sollte oder zumindest die Chance auf ein Erkennen des Neuen, welches einem erst im Kunstwerk in dessen Explikation der Dinge oder der Möglichkeiten gewahr wird. Ein Problem ist: der Wandel verlief zu schnell und gründlich, junge Künstler sind längst in eine Welt ohne Telefonzellen hineingeboren, der Wandel ist ihnen gar keiner, die entstandene Verwirrung, die neuen Ansprüche und das subtile Verschwinden von Freiheit, prägt aber dennoch ihren Alltag in einer Welt, die offenbar nie anders war. Eine Konsequenz ist der beklommene, sein regressives Element immerzu in ein geisterhaftes Anderes projizierender Konservativismus unserer Tage, dabei entschlossen ins Deskriptive verschulter Perspektiven flüchtend oder überall Warnhinweise installierend: Sei wachsam! Tue nicht!

Ich würde da erstmal untertauchen wollen.

Mevlana Lipp, Cycle, 2019, Holz, Samt, Acryl, Tusche 40 x 30 cm, Unikat, Foto: Mareike Tocha

Wie gut, dass ein alter lieber Bekannter anrief, einer aus der Ordnung der Seefedern, eine Renilla reniformis, er selber bevorzugt den englischen Namen „Sea Pansy“, Seestiefmütterchen. Er hätte da einen Künstler ausgemacht, dessen Werk ihn unmittelbar anspräche. Mein Erstaunen darüber legte sich, als ich den Ausstellungsraum betrat. Vor einem tiefschwarzen Hintergrund leuchten fragile, pflanzengleich ineinander verwobene Formen, ihre Farben, von einem unsicheren und doch präsenten, curryfarbenen Orange über ein kühl schimmerndes Eisblau, zu scheinbar aus sich selbst heraus illuminierten, zaghaften und zugleich intensiven Gelb-, Grün- und Blautönen mussten meinen Bekannten wohl an seine eigene Biolumineszenz erinnern, so mein Vermuten. Ein kleines an seiner längsten Seite nicht mal 30 cm messendes Werk im Eingangsbereich lüftete das Geheimnis des unendlichen Schwarz – ohne dabei den Farbton zu bemühen. Blüten aus zartem Rot und Rosa aus denen wiederum neue Pflanzenstengel erwachsen scheinen schwerelos zu schweben, nicht in Luft, sondern im Wasser, selbst wenn das Tiefseedunkel verheissende Schwarz hier von einem königlichen Rot ersetzt wurde, bleibt dennoch der Zauber. Nur Samt vermag dieses Rot zu erzeugen, majestätisch und zugleich im Kleinsten changierend, so dass dem Blick die Gewissheit der Oberfläche entzogen wird.

Mevlana Lipp, Swords, 2019, Holz, Samt, Acryl, Tusche, Perlmut 200 x 150 cm, Unikat, Foto: Mareike Tocha

Mevlana Lipp nutzt diese Qualität des klassisch eleganten Gewebes ungeniert und mutig zugleich, trotzen seine aus MDF gefrästen, organischen Formen mit ihren, bei aller Feinheit der Bearbeitung doch sichtbaren Unvollkommenheiten der Vollkommenheit des Samthintergrunds. Der Reiz der Tiefe bleibt, wie ein Betrachter bemerkte, selbst wenn der Effekt durchschaut ist. Gleich unter dem ersten Werk, auf einem Tisch, liegt ein lehrreicher Text zu Lipps Kunst, eingeleitet von einem Zitat des Soziologen Niklas Luhman der im „Medium Liebe“ kein Gefühl sondern einen „Kommunikationscode“ ausmacht. Just als ich darüber nachdenken mag, hüpft mir eine kleine Fee auf das Textblatt. Ich erkenne sie: Tinkerbell! „Warum grübeln? Frag ihn doch selber!“, flüstert sie und weist mich zur Tür eines Nebenraums. Nachdem ich diese vorsichtig geöffnet habe, Blicke ich auf Luhmann, sitzend hinter Unmengen an wohlgeordneten Karteikarten. „Mir war ganz lieb, dass die jungen Menschen in der jüngeren Vergangenheit doch wieder etwas von mir abgelassen haben“, meint er in einem unterschwellig angespannten Tonfall. Ich entschuldige mich und schließe schuldbewusst (wenngleich auch nicht mehr jung) die Türe so vorsichtig, wie es nur geht. Der Zauber funktioniert zur Not auch ohne sein Dazutun. Im einzigen Querformat „Massage“ züngeln gelbe Flammen aus der Trompetenhand einer Fußpflanze, derweil sich eine langschwänzige Streifenkrake mit ihren Tastarmen um den Fuß zu winden beginnt. Ist es Fortpflanzung oder Nahrungsaufnahme? „Oder dasselbe?“, kichert mein Begleiter, etwas ruppig unterbrochen von Tinkerbell, die über seinen Namen witzelt: „‚Seestiefmütterchen’ oder auch ‚Schönling der See’. Zweiteres ist ihm natürlich viel angemessener!“ und dafür einen grimmigen Blick erntet.

Aber was machen diese Wesen hier eigentlich in meinen seriösen Text?

Eines der großformatigsten Werke der Ausstellung, leider nur „Swords“ und nicht gleich „Sword Lily“ benannt, zeigt in seinem schwarzsamtigen Tiefseeszenario einen Schwarm, seepferdchengleich im dunklen Nichts schwebender Schwertblumen, von perlmuttenen Tränen umweint. Ohne den Quell der Assoziation genau ausmachen zu können, denke ich an Disney, den der 40er und 50er Jahre, Filme aus Tanz und Verwandlungszauber – die leuchtenden Seewesen in der zweiten Episode von „Fantasia“ , ihr Reigen zur Musik von Tschaikowskis Nussknacker-Suite. Lipp nimmt von Disney wie dieser von britischer Elfenmalerei, Arthur Rackham, belgischem und französischem Symbolisus, William Degouve de Nuncques, Odilon Redon und nicht zuletzt vom bei „Fantasia“ für ihn arbeitenden Kay Nielsen nahm. Dort, wo weit eleganter und eindrücklicher als je zuvor in der Kunst das Belebte zelebriert wurde, mag Mevlana Lipps Akademie liegen. Gleich einem geschmackvollen Muster für einen Vorhang der frühen 50er und ebenso zugleich als verblüffender Einblick in die Wunderwelt der Tiefsee erscheinen die Lilienschwerter seines Werks. Und nur in diesem Werk bricht er das konstruktive Gesetz seiner Arbeiten, demnach alle Formen und Objekte mit dem Rahmen verbunden sein müssen, denn die Perlmuttformen wurden direkt auf den Samt montiert. Wie die anderen Objekte letztlich immer Teil einer zusammenhängenden Aussägearbeit sind, das zeigt dieses Werk ebenfalls in vortrefflich trickreicher Eleganz. Dabei sind Lipps Formen stets nur gut gewählt. Oft basierend auf Errungenschaften des Art Nouveau, bleibt ihr Filigranes doch eher Geste, hier war kein René Lalique am Werk, sondern ein Künstler, der das ihm Mögliche wohl bedacht zum besten Effekt einsetzt.

Mevlana Lipp, Fountain, 2019, Holz, Samt, Acryl, Tusche 200 x 150 cm, Unikat, Foto: Mareike Tocha

Und da, so könnte ein Evolutionsbiologe argumentieren, ist Mevlana Lipp in seiner gestalterischen Praxis just bei seinem inhaltlichen Thema angelangt, der „Basic Instinct“ der hier allerorten umgarnende Berührungen entstehen lässt, erweist sich als ein gar nicht so freigiebiger, sondern vielmehr zweckmäßiger Mechanismus der Fortpflanzung.

Die Explosionen der Farben und Formen in „Fountain“, alles tatsächlich nur zweckmäßig optimiert? Man vermeint es sprudeln zu hören, zähere Massen ploppen derweil gemählich herab in dieser biologistischen Interpretation des Jungbrunnens. Geht es aber wirklich um biologische Mechanismen der Fortpflanzung? Die wortwörtlich den Jugendstil zelebrierende Formensprache von „Cycle“ zeigt eine lustbezweckende Variante des Ouroboros. Vor samtenem Hintergrund schimmern auch dessen rotgetünchte Holzkanten in (selbst-)verzehrender Hitze. Jede Staffelung hat zugleich einen dezenten räumlichen Aspekt den Lipp an den Rändern seiner Arbeiten, wo das Motiv den Rahmen überlagert, betont. Hier variiert er die Texturen, ganz zart bettet sich das Blütenblatt über grobkörnige Struktur. So viel Liebe zum Detail, soviel Freude am Selbst als kühle Kalkulation egoistischer Gene?

In all seiner verspielten Pracht diskutiert Mevlana Lipp in ansehnlicher Weise Fragen der Evolution und letztlich auch der Vorstellungen vom Selbst, als von Lust gesteuertem oder als rein sozial konstruiertem Wesen. Kunst vermag dies, wenn sie mit Ideen gefüttert wird, die mehr enthalten als den  Verweis auf eine erfolgte Beschäftigung. „Und es genügt dennoch zum Klugschwätzen“ , reißt mich Tinkerbell, die sich unmerklich auf meiner Schulter niedergelassen hat, aus meinen Gedanken. „Wo ist denn Sea Pansy?“ – „Ach, schon länger fort, in angeregtem Gespräch mit so einem anderen funkelnden Wesen.“ Ja, vielleicht geht es darum in der Kunst, zu funkeln und zu leuchten und um das Alte, das ganz Alte und seine stets rätselhafte Faszination.

Artikelbild: Mevlana Lipp, Massage, 2019, Holz, Samt, Acryl, Tusche, 60 x 80 cm, Unikat, Foto: Mareike Tocha 


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