Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?


Vom Umgang mit fotografischem Material, 2.12.2012-03.03.2013 im Museum für Gegenwartskunst Siegen

Die Rede von der Bilderflut ist zu einem gängigen Schlagwort zur Charakterisierung unserer Zeit geworden. Es sind wohl die Künstler, die am direktesten davon betroffen sind. Wieviel Bedeutung kann ein fotografisches Bild heute noch haben? Die Ausstellung in Siegen geht von der Annahme aus, dass die Bedeutung nicht im Bild selbst liegt, sondern im Kontext. Das Beziehungsgeflecht der Bilder ist der eigentliche Untersuchungsgegenstand dieser Auseinandersetzung mit Fotografie.

Der als direkte Anrede formulierte Titel „Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?“ funktioniert auf zweierlei Weise. Zum einen etabliert er eine direkte Genealogie zwischen der Auseinandersetzung mit Fotografie, wie sie aktuell von jüngeren zeitgenössischen Künstlern praktiziert wird, und Aby Warburg, dem großen Kunsthistoriker, der vor etwa 100 Jahren auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistete. Zum anderen formuliert er die zentrale These der Ausstellung gleich mit: Nicht das Motiv steht im Vordergrund, sondern das Tun, der Umgang mit den Bildern. Beim Rundgang durch die Ausstellung ist die Austauschbarkeit der Bilder nur zu offensichtlich. Die ästhetischen und ethischen Aussagen der Arbeiten transportieren sich nicht über das Abbild, sondern über die Konzepte seiner Befragung: Die Fotografie steht auf dem Prüfstand in ihrer Materialität, ihrer Körperlichkeit, ihrer Beziehung zum Text, ihrer räumlichen Dimension, ihrer Präsentation usw. Ihr Wesen ist flüchtig. Ihm auf die Spur zu kommen, verlangt nach einer künstlerischen Strukturierung.

 

Was tun mit Bildern? Die 23 beteiligten Künstlerinnen und Künstler nehmen sich des bereits vorhandenen Materials an, der überreichen Fülle an existierenden Privatfotografien, Postkarten, Dias, Zeitungsfotos oder des im Internet lagernden Bildmaterials. Sie nutzen bei ihren Recherchen bereits vorhandene Archive aus Haushaltsauflösungen, Antiquariaten oder werden auf Flohmärkten fündig. Auffällig ist das starke Interesse an Material einer veralteten Bildtechnologie. In dessen unperfekter Ästhetik verbirgt sich ein reizvolles experimentelles Potential, das vom heutigen Abstand aus betrachtet die Frage nach der Manipulierbarkeit des Bildes geradezu aufdrängt. Marianna Christofides (geb. 1980 in Nikosia, Zypern) zeigt in „l´histoire d´histoire d´une histoire“ 200 verblichene, handkolorierte Dias unterschiedlichster Provenienz als Zweikanal-Diaprojektion: Manchmal sind zwei gleiche Bilder nebeneinander zu sehen, manchmal zwei verschiedene, dann nur ein Bild, dann wieder bleibt die Leinwand ganz schwarz. In diese bilderlosen Pausen fällt eine weibliche Stimme, die einen Text über das Entstehen von Geschichten so spricht, als erzählte sie dabei selbst eine Geschichte. Im Laufe der Zeit verbinden sich die im ruhigen Duktus wechselnden Bilder zu einem imaginären, über lange Zeiträume und weit entfernte Orte hinweggleitenden Film, begleitet von der Parallelhandlung des reflektierenden Textes – während immer deutlicher wird, dass sich die scheinbar gleichen Zwillingsbilder in kleinen Details unterscheiden. Die kaum bemerkbaren digitalen Manipulationen erwecken durch ihre sukzessive Entdeckung den Anschein, als ob sich die Bilder während der Betrachtung verändern und damit auch ihre Geschichte.

 

Die Ausstellung nutzt geschickt die große Variationsvielfalt des Raumangebots, so dass sich von Raum zu Raum ganz unterschiedliche Situationen bilden. Weite Säle wechseln mit intimen Kabinetten, und immer wieder werden abgelegene Nebenräume einbezogen. Wie der schlauchartige Gang, den sich Lia Perjovschi (geb. 1961 in Sibiu, Rumänien) mit einer „Timeline on General Culture“ zum Schauplatz ihrer manischen Auseinandersetzung mit der Wirkkraft der Bilder auserkoren hat. In der Technik des „Mind Mapping“ ordnet sie das Material öffentlicher Museen nach ihren subjektiven Kriterien. Auch die beklemmende Installation von Özlem Altin (geb. 1977 in Goch) lebt von der Nähe zwischen den Bildern untereinander und dem Betrachter. Sie verbindet heterogenes Bildmaterial in eine zusammenhängende Choreographie. Die Arbeit „Lying“ vereint Fotokopien, eigene Fotografien, Farbausdrucke, übermalte Fotos von Menschen, die aus der Senkrechten gerutscht sind. Liegend, kauernd, in sich zusammengefallen entwickeln diese dysfunktionalen Körper eine zombihafte Existenz. Die massive körperliche Präsenz steht in einem eigenartigen Kontrast zur Passivität der Körper.

Altins Beitrag gehört zu den Arbeiten, die einen sehr direkten Bezug zum „Mnemosyne“ (griechisch für „Gedächtnis“) betitelten Bilderatlas Aby Warburgs herstellen. Warburg (1866-1929) kombinierte in seinem Hauptwerk auf großen mobilen Tableaus Bildquellen unterschiedlicher Herkunft: Reproduktionen von Kunstwerken fanden sich neben Gebrauchsgrafik, Ansichtskarten oder Briefmarken. Seine experimentelle Zusammenstellung von Bildmaterial wollte eine forschende Perspektive auf Kunst und Alltagskunst werfen und war einem kulturellen Gedächtnis der Bilder auf der Spur. Die zu Lebzeiten Warburgs neue Verfügbarkeit von Reproduktionen war für ihn eine Chance, eine Bildpraxis zu entwerfen, wie sie vorher nicht möglich war. Inzwischen ist sein Bilderatlas selbst Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden. Gerade seine offene Vorgehensweise mit variablen Ordnungsparameter und der explizit provisorische Charakters seiner Zuordnungen machen ihn zum Stammvater dieser Ausstellung, die auch eine Hommage sein will.

 

Neben sammelnden, archivierenden und ordnenden Verfahren zeigt die Ausstellung aber auch andere Formen des Umgangs mit fotografischem Material wie die hybriden Verbindungen von Fotografie mit Malerei und Skulptur. Simon Wachsmuth (geb. 1964 in Hamburg) widmet seinen 12teiligen Zyklus „Fehlstellen / Voids“ Piero della Francescas Fresken in der Chorkapelle von San Francesco in Arezzo, in denen der toskanische Maler vermutlich zwischen 1452 und 1466 die Geschichte des Heiligen Kreuzes darstellte. Wachsmuth ist jedoch nicht an der Erzählung interessiert, sondern an den Fehlstellen, den von Restauratoren vorgenommenen Ausbesserungen der durch Witterung, Erdbeben oder Kriege entstandenen Schäden. Diese Blindstellen werden zur schwarz gemalten Positivform, in der sich die Wechselfälle seit der Entstehung der Fresken widerspiegeln. Dazwischen finden sich Zeitungsausschnitte und Fotos aus einer privaten Dokumentation der türkischen Innen- und Außenpolitik. Wie punktuell wirksame Katalysatoren setzen sie einen lebhaften Dialog zwischen damals und heute, Bild und Text, Orient und Okzident in Gang.

 

Bewegliche Collagen stellt Haegue Yang (geb. 1971 in Seoul, Südkorea) mit ihren „Rotating Notes“ her: Die einzelnen Bildplatten sind nur durch Magnete verbunden und lassen sich zu immer neuen Figurationen zusammensetzen. So bleibt die Ausbeute ihrer Recherchen über außergewöhnliche, nicht-angepasste Menschen offen: Wie diese Menschen selbst – darunter die Aktivistin und Mitbegründerin der Grünen, Petra Kelly; die französische Drehbuchautorin und Schriftstellerin Marguerite Duras; die Aktivisten der Black Panther Bewegung in den USA – verweigern sich die skulpturalen Tableaus der Kategorisierung.
Jede dieser 23 Positionen fordert zu einer eigenen Reflektion über die Funktionsweise der Bilder auf. Hilfreich ist dabei der umfangreiche Katalog mit fundierten Texten zu jedem einzelnen Beitrag. Auch wenn die Fülle des Materials kaum zu bewältigen ist, bieten die vielseitigen konzeptuellen Überlegungen zum fotografischen Medium ein spannendes und durchaus sinnliches „Display“, das zeigt, wie sich die „Bilderflut“ in positive Energie verwandeln lässt.

Der Katalog ist im Kehrer Verlag, Heidelberg, erschienen und kostet 29 €.


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