
Stell Dir vor es ist Kunst und keiner sieht sie.
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Spekulationen über Kunst und ihre Auflösung. Ein Essay von Noemi Smolik.
In jüngster Zeit geht in der Ästhetik der Begriff des spekulativen Materialismus/Realismus um. Die Welt kann und muss auch unabhängig von Menschen gedacht werden, so, sehr stark verkürzt gesagt, die Vertreter dieses neuen Denkens. Mit der Relevanz diese gedanklichen Ansätze in der zeitgenössischen Kunst befasste sich bis zum Sommer diesen Jahres intensiv das Fridericianum in Kassel und veranstaltete drei Ausstellungen, die von einem Symposium und Künstlergesprächen thematisch begleitet war. Diese groß angelegte Trilogie war der Kunstkritik nicht entgangen, viele Besprechungen erschienen, viel wurde diskutiert. Doch in den meisten Reviews wurde den noch jungen Denkansätzen und ihrem Einfluss auf die Kunst eher mit Hohn und Spott begegnet. Kaum verwunderlich, ist dies doch die bewährte Taktik der ewig Konservativen gegenüber dem Neuen. Dabei berufen sich viele der rund 50 in den Ausstellungen vertretenen Künstlerinnen und Künstler einer sogenannten Postinternet-Kunstgeneration auf den spekulativen Realismus. Grund genug, der Verbindung zwischen der philosophischen Strömung und einiger aktueller Tendenzen in der Kunst anhand der drei Ausstellungen noch einmal genauer nachzugehen.

“Speculations on Anonymous Materials”, Installationsansicht Fridericianum © Photo: Achim Hatzius / Vorne: Oliver Laric, 5, 2013, HD video 10’00’’, Courtesy Oliver Laric, Seventeen, London and Tanya Leighton, Berlin / Hinten (v.l.n.r..): Alisa Baremboym, Syphon Solutions, 2013; Travel Impression, 2013; 6-D, 2013; Sterile Impression, 2013; James Richards, The Screen, 2013
Mit der ersten Schau „Speculations on Anonymous Materials“ waren bereits die entscheidenden Begriffe der ästhetischen Debatte Programm. Traditionell, dialektisch gedacht, widersprechen sich Spekulation und Material, da mit spekulativ das Nachdenken über die Unendlichkeit und das Absolute gemeint ist, also über das, was das Materielle übersteigt. Dagegen gehört das Material den harten Tatsachen der Physik an. Seitdem es aber die neuen spekulativen Materialisten/Realisten gibt, scheint alles anders zu sein.
In Frage gestellt durch die Möglichkeit experimenteller Naturwissenschaften, über eine vor dem Entstehen des organischen Lebens existierende Welt Auskunft zu geben, also darüber nachzudenken, was es bereits vor dem Denken gab, sollte der Materialismus sich dem spekulativen Denken nicht mehr verschließen, meint zum Beispiel der französische Philosoph Quentin Meillassoux in seinem Buch Nach der Endlichkeit: Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz (2008). Auch tritt er für die Aufhebung der Endlichkeit ein und meint, dass es keine Notwendigkeit gebe, sondern alles geschehen könne, aber auch nicht muss.

“Speculations on Anonymous Materials”, Installationsansicht Fridericianum © Photo: Achim Hatzius / Vorne: Katja Novitskova, Approximation V Chameleon, 2013, Digital print on aluminum dibond, cutout display, 145 x 130 x 20 cm, Courtesy Katja Novitskova und Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin / Hinten links: Ken Okiishi, gesture/data, 2013 / Hinten rechts: Katja Novitskova, Branching II, 2013
Auch sollte, so der amerikanische Denker, Graham Harman, der an der Universität in Kairo unterrichtet, die seit Kant etablierte Subjekt/Objekt Gegenüberstellung, die das Subjekt als Quelle der Wahrnehmung privilegiert, neu überdacht werden. Er spricht von einer Objekt bezogenen Ontologie, die das Objekt gleich dem Subjekt stellt. Wenn man bedenkt, mit welcher Überheblichkeit sich das westliche Subjekt der übrigen Objektwelt gegenüberstellte – der postkolonialen Welt, der Welt der Tiere, der Welt der Ressourcen – dann könnte dieser auf Gleichheit basierender Zugang befreiend sein. Wie das aber genau gehen soll, weiß keiner so richtig, dass aber etwas im Bezug auf das Verständnis des Subjekts in der westlichen Welt geschehen muss, darauf macht seit Jahren bereits der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour aufmerksam. Er wird allgemein als Vorläufer dieser Position gehalten. Dass bereits etwas im Verständnis des Subjekts geschehen ist, da die Trennungslinie zwischen Objekt und Subjekt immer durchlässiger wird, davon kann sich ja jeder selbst überzeugen, wenn er sich in das Universum des Internets begibt.
Spielte der Titel der ersten Ausstellung also auf den anonymen Ursprung computergenerierter Bilder und zugleich auf die subversiven Aktionen der Anonymous-Bewegung an, ging die zweite Ausstellung „nature after nature“ der Materialität der Materialien nach. „Inhuman“ schließlich befasste sich mit der Zukunft des Menschen. Für diese dritte Ausstellung wählte die Kuratorin als Motto den Text „Das Inhumane“ von Jean-Francois Lyotard aus, der der Frage nachgeht – sozusagen als eine Parallele zu der Frage von Meillassouxs, ob man über eine Welt vor dem Denken denken könne – ob man ohne Körper denken könne.

Timur Si-Qin, Axe Effect, 2013 (Ausschnitt) Installationsansicht „Speculations On Anonymous Materials“, Fridericianum, © Photo: Achim Hatzius, Courtesy Timur Si-Qin und Société, Berlin
Mit dem Körper beschäftigten sich Künstler in allen drei Ausstellungen aber nicht mehr mit einer Perspektive auf ihn als Ursprung der Wahrnehmung, wie er seit Kant in einem definierten Raum-Zeit Kontinuum gesehen wird. Vielmehr war er hier das Objekt der Reinigung, der Stimulans, der Steigerung der Wahrnehmung – kurz der Optimierung. Die Zahl der Arbeiten, die sich mit reinem Mineralwasser, mit diversen Körperreinigungsmitteln oder stimmungsaufhellenden Mitteln beschäftigen, war verblüffend. Etwa von Timur Si-Qin, der als Kommentar zu der vom Subjekt ausgehenden noch heldenhaften Geste der abstrakten Expressionisten Plastikflaschen des Männer-Duschgels AXE auf einen Samurai Schwert aufspießte und den Inhalt zu banalen pollockartigen Pfützen auf dem Boden gerinnen ließ.
Galt für die moderne Kunst das Subjekt als das, was sich der Objektwelt gegenüberstellt, so scheint das Subjekt bei den in Kassel vertretenen Künstlerinnen und Künstlern selbst zum Objekt zu werden. So in dem High-Definition Film Warm, Warm, Warm Spring Mouths von 2013 des britischen Künstlers Ed Atkins, der nicht nur die Hyper-Realität der animierten menschlichen Körper ihrer filmischen Immaterialität gegenüberstellt, sonder auch danach fragt, was passiert mit der Sprache wenn sie von computeranimierten Menschen gesprochen wird. Kommuniziert diese Sprache noch oder wird sie zur bloßen Information ähnlich einer Anzeigetafel am Flughafen – wird der Mensch wie diese zum Code?
Wie codierte Menschen wirken auch in Ryan Trecartins verstörend anarchistischen Film Item Falls von 2013 die bizarr verkleideten hyperaktiven Jugendlichen, die unentwegt aneinander vorbei plappern. Und während sie über die Möglichkeit, ein computeranimiertes Pferd auftreten zu lassen, debattieren, erscheint ein echter Gaul im Raum. Endlich ein Subjekt – das macht die Jugendlichen sprachlos, die Kommunikation kann beginnen.
Die Hände sind es, die dem Subjekt den Zugang zum digitalen Raum über die Touchscreens ermöglichen. So porträtiert Josh Kline seine Freunde, indem er ihre Hand ihr Lieblingsobjekt haltend – Dosen mit Aufputschmitteln, Seifen und Smartphones – in einem 3D-Druck Verfahren abbildete.
Die in Jugoslawien geborene Alexandra Domanič reproduzierte im 3D-Verfahren die sogenannte Belgrader Hand, die erste um 1963 in Jugoslawien hergestellte Handprothese mit sensorischen Fähigkeiten. Die Hand als Brücke zur digitalen Welt. Spätestens hier beginnt man zu ahnen, was Graham Harman mit einer Objekt orientierte Ontologie meint. Wir, unsere Hände sind längst Teil der digitalen Objektwelt geworden. Im post-post marxistischen Sinne hätte man es Entfremdung genannt, heute spricht man von Entsubjektivisierung. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Subjekt keine Rolle mehr spielt. Nur ändert sich sein Verhältnis zu der Objektwelt in einer Weise, die Bruno Latour in seinem neuesten Buch Existenzweisen so spannend zu erfassen versucht.

Aleksandra Domanović, Živa, 2013, © Foto: Achim Hatzius, Speculations On Anonymous Materials, Fridericianum
An diese Tendenz einer Entsubjektivierung schließt sich auch sogleich eine zweite an, die sich in der Ausstellungsreihe offenbarte: Es werden kaum noch Bilder gebraucht, die der Einbildungskraft des Subjekts entspringen. Die Quelle und Ursprung der Bilder fast aller in Kassel vertretenen Künstlerinnen und Künstler ist das in Informationsnetze gespeiste Universum. Bereits Vorhandenes, zufällig Gefundenes, einem in die Quere Gekommenes wird aufgegriffen, gesammelt, aufgehoben, oft ohne ein bewusstes Eingreifen des Subjekts und ohne bestimmte Kriterien. Das widerspricht dem klassischen Grundsatz der Moderne, der noch davon ausging, dass das Neue aus dem Nichts geschaffen werden kann. Aber, war das Neue nicht schon immer nur eine Mutation des Bestehenden und somit ein der größten Mythen der Moderne?
Statt Neues zu erfinden also Vervielfältigung durch Mutation, Überschneidung, Vermischung und Teilung. Hier sei das Animationsvideo UterusMan von 2013 der in Shanghai geborenen Lu Yang zu erwähnen, der im dritten Teil der Trilogie „Inhuman“ zu sehen war. Hierin lässt sie eine Art Superman/woman die Konturen einer Gebärmutter annehmen. Mit dieser weiblichen Superpower ausgestattet jagt er durch eine Welt aus Manga und Videospiel, gespickt mit Filmsequenzen, Röntgenbildern und wissenschaftlichen Aufnahmen. Er begattet sich selbst, gebiert monströse Babys und beschießt seine Feinde mit Eizellen. Alle Grenzen zwischen weiblich und männlich, Mensch und Maschine, Natur und Künstlichkeit sind in dieser Dimension aufgebhoben.In dem 2014 entstandenen Video Ohne Titel von Oliver Laric, verwandeln sich Frauenbrüste in Hundemäuler, Bäume in Lebewesen, Tiere in Maschinen. Abgezeichnet von Abbildungen und Filmszenen durch unterschiedliche Animationsfilmer bleiben diese Subjekte immer im Prozess des Werdens, ohne Anfang und Ende, ohne Geschlecht und Identität.
Eine solche, durch die neuen Technologien beschleunigte Präsenz sogenannter Quasi-Objekte, die ihr Unwesen treiben, beschreibt seit einigen Jahren der bereits erwähnte Bruno Latour. Ebenso weist er auf die Tatsache hin, dass durch das Aufkommen solcher Mensch-Objekte eine Abgrenzung oder Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Mensch und Maschine, Materie und Spekulation, Endlichkeit und Unendlichkeit, die geradezu der Pfeiler des modernen, seit Kant vorherrschenden Denkens waren, immer schwieriger wird.
Und damit landet man auch schon bei einer weiteren künstlerischen Richtung, die ein Paradox offenbart: Auffallend viele Künstler und Künstlerinnen arbeiten aktuell mit unsichtbaren oder immateriellen Materialien wie Licht, Duft, Flüssigkeit oder magnetische und elektrische Kraftfelder. Das wurde vor allem in der zweiten Ausstellung „nature after nature“ deutlich. So zeigt Susanne M. Winterling in Immersion Scorpio von 2014 eine Laboraufnahme eines Skorpions, der eine für menschliche Augen unsichtbare Fähigkeit besitzt, blaues Licht aufzunehmen und in anderen leuchtenden Farben auszustrahlen, was auf ein kaum erforschtes Farbspektrum in der Dunkelheit des Meeres hindeutet. Die schwedische Künstlerin Nina Canell (*1979) wendet sich in ihren Werken der Präsenz der Luft und des Duftes zu. Ihre minimalistischen Skulptur Interiors (Condensed) – ein Wasserglas mit verfestigter Luft auf hellem Teppich – stellte ein Spannungsverhältnis zwischen der Grenze des Glases und der Luft, zwischen Innenraum und Außenraum dar.
Die Ukrainerin Olga Balema fordert die Zeit heraus, indem sie transparente Plastikkissen mit Wasser und verschiedenen Wirkstoffen füllte, die, bedingt durch die Wechselwirkung der Materialien in einem unendlichen Prozess ihre Farbe und Textur ändern.
Alle diese Materialien zeichnen sich durch einen flüssigen Zustand aus, der keine Abgrenzungen erlaubt. Das führte den schon erwähnten Künstler Si-Qin, der mit fließendem Duschgel malt dazu, in Anlehnung an Meillassoux selbst von „Ästhetik der Kontingenz“ zu sprechen, die so etwas wie einen ständigen und unvorhersagbaren Materialfluss innerhalb semi-stabiler Strukturen meint.
Auch scheint sich die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit zu verwischen.
In ihrem herzergreifenden Video Hyperlinks or It Didn’t Happen aus dem Jahre 2014 fragt die in London und Berlin lebende Cécile B. Evans (*1983) ebenso nach dem Eigenleben unserer Bilder, wie auch nach unserem persönlichen Eigenleben im Netz. Die schlechte digitale Reproduktion des verstorbenen Schauspielers Philip Seymour-Hoffman, zum Leben erweckt, um eine Blockbuster Serie am Laufen zu halten, kommentiert hier die losen Episoden von Youtube Videos, Fotos und Animationen:
Neue Formen eines Weiterlebens behandelt auch Aleksandra Domanovič in ihrer Arbeit HeLA on Zhora’s coat, von 2015. Durchsichtige Regenmäntel bedruckt sie mit Bildern von „HeLa“-Zellen. Diese Zellen wurden 1951 der an Krebs erkrankten Henrietta Lacks im Johns Hopkins Krankenhaus in Baltimore entnommen. Es sind die ersten Zellen, die außerhalb des menschlichen Organismus weiter kultiviert werden konnten und die heute weltweit als Grundlage für weitere Forschungen dienen. So lebt Henrietta Lacks trotz ihres Todes in diesen Zellen weiter und fordert unseres Verständnis vom Tod heraus. Je mehr die neuen Technologien das Leben durchdringen, umso verworrener werden die Fragen nach dem Materiellen und Immateriellen, nach dem Tod und der Unsterblichkeit, nach der Endlichkeit und Unendlichkeit. Dabei sind diese Technologien ausgerechnet damit aufgetreten, klare Grenzen zwischen Objekt und Subjekt, Leben und Tod, Materie und Illusion zu ziehen.
Doch wo alles ineinanderfließt, wie in den Videos von Yang und Laric, wo das Leben sich nach dem Tod in animierten Bildern fortsetzt und wo Kunstwerke sich, wie es der Künstler Si-Qin fordert, in einem unvorhersehbaren Materialfluss befinden, stellt man da der Kunst nicht eine Falle? Denn wenn es keine Grenzen mehr gibt, dann gibt es auch keine Abgrenzungen eines ästhetischen Objekts gegenüber allen anderen Objekten. Dann gibt es die Kunst nicht mehr. Ist das vielleicht die Zukunft? „Aus der Perspektive des Jetzt erscheint uns die Zukunft der Menschheit monströs… „sagt die Künstlerin Julieta Aranda im Begleitheft der Ausstellung Inhuman, „aber das muss nicht unbedingt etwas Negatives bedeuten.“ Richtig! Denn dort, wo sich alles in einem Zustand der Veränderung befindet, kann nichts, aber eben auch alles zur Kunst werden.
Artikelbild: Susanne M. Winterling, Ecologies (microlevel solidarity lab), 2014 (Detail)
Vielen Dank für den spannenden Essay.
Ich gehöre – wenn man so sagen will – exakt zur Zielgruppe. Ich kenne die besprochenen Ausstellung von vielen Besuchen (ich wohne in Kassel) und bin sehr an den fraglichen philosophischen Strömungen “Realismus / Neuer Realismus / Spekulativer Realismus / …” interessiert. Der Versuch der “Verbindung zwischen der philosophischen Strömung und einiger aktueller Tendenzen in der Kunst anhand der drei Ausstellungen noch einmal genauer nachzugehen” interessiert mich daher sehr.
Bevor ich ein oder zwei Anmerkungen zur Trennung oder Nichttrennung von Subjekt und Objekt machen möchte, will ich zunächst knapp skizzieren, was ich selbst mit dem Label “Realismus / Neuer Realismus / Spekulativer Realismus / …” verbinde. Unter diesem Titel firmieren viele verschiedene (auch “inkompatible”) Denker, die zumeist eint, dass sie bestimmte postmoderne Sichtweisen ablehnen. Insbesondere die Idee, dass unsere Wirklichkeit(en) per se “sozial konstruiert” sind.
Da der Name Latour (als Realist!?) in dem Essay fiel, bietet sich das folgende erläuternde Zitat von Paul Boghossian an – aus “Angst vor der Wahrheit”, “Die Tatsachen konstruieren”, Seite 33:
“Ein berühmter Konstruktivist, der französische Soziologe Bruno Latour, scheint sich in dieser Frage [Tatsachen sind konstruiert] dazu entschlossen zu haben, einfach in den sauren Apfel zu beißen. Als französische Wissenschaftler nach einer Untersuchung der Mumie von Ramses 11. (der 1213 vor Christus starb) zu dem Ergebnis kamen, Ramses sei wahrscheinlich an Tuberkulose gestorben, bestritt Latour, dass so etwas möglich sei: »Wie konnte er an einem Bazillus sterben, der 1882 von Robert Koch entdeckt wurde?« Er merkte an, dass die Behauptung, Ramses sei an Tuberkulose gestorben, genauso anachronistisch wäre wie die, er sei im Maschinengewehrfeuer umgekommen. In Latours verwegenen Worten: ‚Vor Koch hatte der Bazillus keine wirkliche Existenz.’”
Diese Version des Tatsachenkonstruktivismus nennt Boghossian gelegentlich Förmchenkonstruktivismus. Im vorliegenden Fall liegen die Dinge nach dem Latour des Zitates – so wie ich vermute – so, dass wir ein bestimmten Begriffsschema, wie ein Förmchen in den “Weltteig” einprägen und erst auf diese Weise Dinge wie den Bazillus erhalten, die es ohne dieses Begriffschema (die Förmchen) nicht gibt. Wir konstruieren Tatsachen, indem wir eine Rede- oder Denkweise (ein bestimmtes Vokabular) akzeptieren, die diese Tatsache beschreibt/hervorbringt. Alle Tatsachen sind nach dieser Sicht (die ich nicht teile) notwendig beschreibungsabhängig
Da es nach Ansicht der Antirealisten viele verschiedene (z.B. kulturell bedingte) Begriffsschemata geben kann, mit denen man den Weltteig traktiert, verabschieden solche postmoderne Denker in der Regel auch den Begriff der Wahrheit. Wahr ist für sie etwas immer nur in Bezug auf ein Begriffsschema. Ein So-Sein der Welt wird nicht angenommen.
(Da ich das Werk von Latour nicht kenne, weiß ich nicht, welche Entwicklungen es genommen hat – aber die obigen Zitate kann man natürlich auf keinen Fall dem Neuen Realismus zuordnen, sie gehören statt dessen viel eher zum Antirealismus.)
Ich denke, dass viele (wenn nicht alle) Realisten solche und ähnliche postmoderne Sichtweisen ablehnen. Zwar dürften sie alle zugestehen, dass wir immer gewisse Perspektiven auf die Welt haben. Aber nach der Ansicht vieler Realisten (die ich teile) können wir auch aus dieser Perspektive heraus, das So-Sein der Welt erkennen. Grundlegende Begriffe wie Wahrheit, Objektivität und Vernunft werden von vielen dieser neuen Realisten nicht abgelehnt oder pauschal “relativiert”, sondern wieder in ihr Recht gesetzt.
Dazu werden die verschiedensten (anti-antirealistischen) Argumente vorgetragen. Zum Beispiel ist Quentin Meillassouxs Hinweis auf “die Möglichkeit experimenteller Naturwissenschaften, über eine vor dem Entstehen des organischen Lebens existierende Welt Auskunft zu geben” (vielleicht neben anderem) insbesondere ein Argument gegen den Antirealismus bzw. den Korrelationismus, wie er es nennt. Ein Witz des Argumentes besteht nach meiner Ansicht darin, die Trennung (!) von Subjekt und Objekt so augenfällig zu machen, dass sie jedem einleuchtet – es gab längst eine Welt bevor es Subjekte gab. Und mit diesem Umstand sind korrelationistische Philosophien nach Ansicht Meillassouxs nicht zu versöhnen, wenn ich ihn richtig verstehe.
Subjekt/Objekt Gegenüberstellung
Ich bin zunächst auf diesen Punkt zugesteuert, um anzudeuten, wie schillernd die Begriffe “Subjekt” und “Objekt” sind. Je nach Kontext können sie ganz verschiedenes meinen. Bei der Subjekt/Objekt Gegenüberstellung geht es manchmal einfach um das Erkenntnis-Subjekt und seine Erkenntnis-Objekte – also zum Beispiel die Dinge in der Zeit vor jedem Denken. Wenn man die Kausalität nicht umkehren will, dann kann hier Trennungslinie zwischen Objekt und Subjekt nicht durchlässig sein. Wir sind Kinder der Evolution. Und wenn auch der Begriff “Evolution” unser Kind ist – die Evolution ist es nicht.
In dem Essay wird auch Graham Harman erwähnt. Ich kenne von ihm leider nur seinen kurzen “documenta” Aufsatz. Auch hier sehe ich eine klare Trennung von Erkenntnissubjekten und ihren Gegenständen. Er macht das an “drei Tischen” deutlich. Weder ist der fragliche Tisch erstens nichts weiter als ein “lebensweltlicher” Alltagsgegenstand, noch ist er zweitens nichts als ein “naturwissenschaftlicher” Tisch. “Der Wissenschaftler reduziert den Tisch hinunter zu winzigen Partikeln, die für das Auge unsichtbar sind; der Humanist reduziert ihn hinauf zu einer Reihe von Wirkungen auf Menschen und andere Dinge.” (Graham Harman) Sondern er ist drittens eine autonome Realität. Ich verstehe das so, dass der Tisch ganz und gar unabhängig von einem Erkenntnissubjekt gedacht werden muss. “Der reale Tisch ist eine genuine Realität, die tiefer ist als irgendeine theoretische oder praktische Begegnung mit ihm.” (Graham Harman)
Nach der Ansicht von Graham Harman “muss sich die Philosophie mit allen Arten von Objekten beschäftigen, anstatt alle Objekte auf einen bevorzugten Typus zu reduzieren: Zebras, Kobolde und Armeen sind einer philosophischen Debatte ebenso würdig wie Atome und Gehirne.” In diesem Sinne sind natürlich auch Subjekte genuine Objekte.
Da ich nur dieses kleine documenta-Heft Harmans kenne, fällt es mir schwer anhand des vorliegenden Textes zu sehen, wie er das “Objekt gleich dem Subjekt” stellt – wie es in dem Essay heißt. Ich sehe eher, dass er sich für eine Trennung von Erkenntnissubjekt und seinen Gegenständen stark macht, ebenso wie er (nach meinem Verständnis) für eine Vielzahl von Objektarten zu plädieren scheint. Das Subjekt ist dann zwar ein Objekt, ebenso wie der Kobold eines ist – aber doch keines der gleichen Art. Oder? Vielleicht ist meine Interpretation aufgrund er dünnen Textbasis aber auch verfehlt …
Diese Anmerkungen lagen mir am Herzen :-) Und wenn ich auch noch viele Fragen hätte (z.B.: Warum lebt Henrietta Lacks trotz ihres Todes in diesen Zellen weiter und fordert unseres Verständnis vom Tod heraus?) so möchte ich an dieser Stelle schließen …
und verbleibe mir freundlichen Grüßen
Jörn Budesheim