Das Abenteuer unserer Sammlung
Nach sechs Jahren: Das frisch renovierte Kaiser Wilhelm Museum Krefeld hat mit einer neuen Präsentation seiner Sammlung wieder geöffnet. Eine Besprechung von Sabine Elsa Müller (2.7.16.– Febr. 2017)
Geht das denn? Gerhard Richter neben Sigmar Polke, in Korrespondenz dazu kleine Bildtafeln von Luc Tuymans. Lichtobjekte von Hermann Pitz vor den monumentalen Portraits von Thomas Ruff. Ein Fotoblock des Künstlerpaares Gilbert & George wird von Carl Andres früher „Convex Ash Pyramid“ von 1959 flankiert, und Kiki Smiths „Verkündigung“ aus dem Jahr 2008 – eine überlebensgroße, sitzende Frauenfigur aus Aluminium – tritt in eine unmittelbare Beziehung zur mittelalterlichen Schnitzkunst. Ja, es geht. Und sogar sehr gut, denn die im ersten Moment überraschenden Korrespondenzen und Sichtachsen lassen die Kunst nach 1945 in neuem Licht erscheinen. So zeigt sich nicht nur das Kaiser Wilhelm Museum nach der langen Sanierungspause in neuem Glanz. Auch die Sammlung mit ihrem überwältigenden Fundus an hochkarätigen Klassikern und solchen, die es noch werden wollen, wirkt frisch und erstaunlich zeitgenössisch.
Nach sechseinhalb Jahren Schließung wegen der zuletzt unzureichenden klimatischen Bedingungen empfängt das wiedereröffnete Haus den Besucher mit weltgewandtem Selbstbewusstsein. Weiße Wände, klare Formen, schönes Mobiliar. Ein Versprechen. Das sich in den beiden oberen Etagen einlösen wird. Martin Hentschel, der seit 2001 als Direktor den Krefelder Museen vorsteht – dazu gehören neben dem Kaiser Wilhelm Museum auch die Museen Haus Lange und Haus Esters –, hat aus dem Gesamtbestand von rund 14.000 Werken aller Gattungen etwa 370 Spitzenstücke seit 1945 ausgewählt. Er vollzieht damit den Schulterschluss mit seinen legendären Vorgängern Paul Wember (1947 – 1975) und Gerhard Storck (1976 – 1999) und deren avancierter Ausstellungs- und Ankaufspolitik, die das im Gründungsjahr 1880 ursprünglich zweigleisig, nämlich für Kunstgewerbe und Kunst angelegte Museum unbeirrt zu einem der führenden Häuser für zeitgenössische Kunst machten.
Auf der ersten Etage beginnt Hentschels Sammlungs-Abenteuer mit Fotografie. Frontal gegenüber des Eingangs bieten fünf große Portraits von Thomas Ruff aus den Jahren 1985 – 1987 dem Besucher einen grandiosen Empfang. Die konzentrierte Aufmerksamkeit, mit der die jungen Frauen aus ihren monumentalen Portraits auf uns herabschauen, wirkt geradezu einschüchternd. Erworben wurde diese ikonenhafte Gruppe 1989 auf Betreiben von Gerhard Storck, der einige der schönsten Werke der frühen Becher-Schule an das Haus holte. Die zwei großen Ruhrtal-Versionen von Andreas Gursky daneben wurden im selben Jahr angekauft; dagegen stammen die kleinen, eher an der Fotoreportage orientierten Bilder von Bert Teunissen und François-Marie Banier aus Hentschels Amtszeit. Die eindringlichen Farbfotografien des Niederländers Teunissen, Jahrgang 1959, zeigen Menschen in einfachen, oft bedrückend ärmlichen Behausungen in ländlichen Gegenden, in denen die Zeit stehen geblieben scheint. François-Marie Banier, geb. 1947 in Paris, nimmt den Stadtraum ins Visier. Seine Schwarzweißfotografien aus den 90er Jahren wirken ebenfalls eigenartig aus der Zeit gefallen.
Im nächsten Raum strahlt ein großer Leuchtkasten von Jeff Wall eine majestätische Ruhe aus: „The Holocaust Memorial in the Jewish Cemetery“ von 1987 wurde 1988 sozusagen atelierfrisch mit Unterstützung des Landes NRW erworben. Diese akribischen Hinweise auf den Titelschildern mögen nicht für jeden Besucher interessant sein. Aber sie verweisen mit dem Ankaufsjahr auf den gesellschaftlichen und politischen Kontext, der den Kauf eines Kunstwerks immer mitbestimmt. Und natürlich veranschaulichen sie nebenbei die Sisyphosarbeit der ständigen Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten.
Eine der wenigen Videoarbeiten der Ausstellung, „Single Wide“ von Teresa Hubbard/Alexander Birchler aus dem Jahr 2002 trennt die Fotosektion von der Malerei. Dieser Ankauf verdankt sich der Heinz und Marianne Ebers-Stiftung, die Gerhard Storck zum hundertjährigen Jubiläum des Museums 1997 zur Unterzeichnung bringen konnte. Nicht nur in den Jahren des auf null gesetzten Ankaufsetats des Museums zwischen 1995 und 2007 erwies sich die Stiftung als Rettungsanker, um die Sammlung durch Zuwächse lebendig zu halten. Nach dem dramatischen Abzug der Sammlung Lauffs im Jahr 2007 wurde überdeutlich, wie wichtig und weitsichtig es gewesen war, ein weiteres Standbein aufzubauen.
Nun also Malerei: Die Arbeiten von Peter Angermann, Stefan Ettlinger, Karin Kneffel, Mamma Anderson rufen die von Martin Hentschel fachkundig kurartierten Einzelpräsentationen in den Häusern Lange und Esters in Erinnerung. Der scheidende Museumsdirektor – Hentschel übergab den Stab am 1. September an Katia Baudin – verhalf der Malerei dort zu vielen starken Auftritten und der Sammlung zu wichtigen Neuerwerbungen. In der zweiten Etage ist man beim Eintreten fast geblendet von der geballten Versammlung von Hauptwerken. Gerhard Richters „1024 Farben“ von 1973 hängt neben Sigmar Polkes alchimistischem „Regenbogen (Regenwetter)“ von 1983 und dem durchgeistigten „Im Westen nichts Neues, Himmelstoß“, 2004/2005. Im Anschluss folgt „The Lynching of Mary Turner“ (2013) von Fabian Marcaccio, ein 240 x 305 cm großes Schreckenspanoptikum aus verknüpften Seilen, Silikon, Alkyd, Holz und Plastik in 3-D-Druck. In seiner monströsen Präsenz könnte es sich zu einem Hauptwerk des beginnenden 21. Jahrhunderts entwickeln.
Das Werk stammt aus der 2012 im Haus Esters präsentierten Marcaccio-Ausstellung „Some USA Stories“. Laut Hentschel verdanken sich 90 Prozent der Sammlung einer Ausstellung in einem der Krefelder Museen. Eine Strategie, die auch schon von Paul Wember praktiziert wurde, der gegen alle Widerstände die Stadt am Niederrhein in den frühen 60er Jahren zu einem Zentrum der Avantgarde machte. Er hat nicht nur 1961 mit der Ausstellung „Monochrome und Feuer“ die erste und zu Lebzeiten einzige Museumsausstellung von Yves Klein an das Haus Lange geholt, in dem sich bis heute der von Klein gestaltete Raum „Le Vide“ als „immaterielle Zone“ erhalten hat. Er hat auch schon früh, nämlich 1952 den Grundstein gelegt für die beiden eigenhändig von Joseph Beuys im Kaiser-Wilhelm-Museum eingerichteten Räume, die einzigen bis heute erhaltenen außerhalb der Darmstädter Mathildenhöhe.
„Das Abenteuer unserer Sammlung“ umfasst solche unschätzbaren Zeitzeugnisse, als das auch die wieder freigelegten Wandgemälde von Johan Thorn Prikker aus dem Jahr 1923 gelten dürfen. Vor allem aber lebt es aus Gegenüberstellungen, die den Atem anhalten lassen. Etwa wenn der berühmte kleine Monet „Le Parlement, coucher de soleil“ von 1904 – gerade noch dem Ausverkauf durch die Stadt Krefeld entronnen – einem veritablen Wachsbild von Herbert Hamak zur Seite gestellt wird. Oder wenn wie im Prangenberg-Raum ein Schulterschluss mit der Malerei der Renaissance oder des Mittelalters vollzogen wird, der das Alte modern, das Moderne aber zeitlos und allgemeingültig erscheinen lässt.
Überaus empfehlenswert ist auch der schwergewichtige Katalog mit ausführlichen Texten zu etwa 150 ausgewählten Werken und einem bebilderten Gesamtverzeichnis aller Werke ab 1945, 560 Seiten, Wienand Verlag, 45 €
Artikelbild: Kaiser Wilhelm Museum, Foto: Volker Döhne, Kunstmuseen Krefeld