Abgründige Moderne
Manifesta 9, bis 30. September in Genk, Limburg, Belgien
So eigenwillig eine Biennale auch sein mag – an einer Bedingung kommt derzeit keine vorbei: Ortsspezifisch muss sie sein. Diesen bisweilen großzügig ausgelegten Anspruch erfüllt die 9. Manifesta so präzise wie umfassend.
Eine Bodenarbeit aus Robert Smithsons Serie der Non-Sites ist Teil und Sinnbild dieser Wanderbiennale mit traditionell lokaler Ausrichtung, die diesmal ihren Ausgangspunkt in der vom Steinkohlebergbau geprägten Region im belgischen Limburg nimmt. In den Non-Sites fasste Smithson die Beziehung zwischen ausstellendem Rahmen und ausgestelltem Gegenstand zusammen. Site ist der Ort im Außenraum, in den der Künstler eingreift; Non-Site ist die Form, die Smithson diesem Ort im Kontext seiner Repräsentation an einem anderen Ort gibt. So arrangierte er das dem Außenraum entnommene Material – im vorliegenden Fall Steinkohle – in industriell gefertigten Metallboxen, wodurch sich amorphe und kristalline Strukturen zu natürlich-synthetischen Skulpturen ordnen und der sperrige Rohstoff unter institutionellen Bedingungen dargeboten wird.
Die Transformation, der die Natur im kulturellen Umfeld unterliegt, beschäftigt auch Smithsons Land Art-Kollegen Richard Long, dessen hier gezeigtes, charakteristisches Geröllfeld ebenfalls aus Kohle besteht. Dem Beitrag der Kohleindustrie zur Erzeugung und Zerstörung von Kultur und Natur nähert sich die Manifesta aus drei Perspektiven. In dem 1924 errichteten Hauptgebäude einer ehemaligen Mine sind 39 zeitgenössische Arbeiten aus den Bereichen bildende Kunst, Film und Performance zu sehen. Daneben zeichnet eine kunsthistorische Sektion die Entwicklung des Kohlebergbaus als Gegenstand von Grafik und Malerei seit der Romantik nach, während die dritte Abteilung die soziokulturelle Entwicklung der Bergarbeiter-Region dokumentiert.
Der sich so ergebende rhythmische Wechsel von Bildfasten und Augenschmaus beugt der Gefahr eines potenziellen Informations-Overkills vor, zumal die vier Stockwerke des kathedralenartig dimensionierten Art déco-Baus sowohl kleingedruckten als auch monumentalen Exponaten ihre Schutzzonen und Hoheitsgebiete zugestehen. Die Veranschaulichung abstrakter Prozesse von Produktion, Distribution und Zerstörung industrieller Produkte gelingt mittels einer Flotte buchstäblich zwischengelandeter Gebetsteppiche der in den 50er und 60er Jahren angeworbenen ‚Gastarbeiter‘ ebenso wie mit freundlicher Unterstützung einer Ameisen-Kolonie. Während Magdalena Jitrik in ihrer multimedialen Installation die Aufbruchstimmung des revolutionären Russlands beschreibt, beschränkt sich der Kommentar der Gruppe Claire Fontaine zum Ende der Sowjetunion auf die Rekonstruktion der optimistisch farbenfrohen Neonschrift, die einst das „Haus der energetischen Kultur“ in Pripyat bei Tschernobyl zierte.
Bei Ante Timmermans stellt sich eine diffuse Ahnung der eigenen Einbindung in fremdgesteuerte Abläufe ein. Man identifiziert sich mit dem Künstler, der inmitten eines Käfigs aus Tonnen geduldig wartenden Papiers mit quälender Gewissenhaftigkeit ein Blatt nach dem anderen stempelt und locht und dabei einen Konfettihügel produziert. Beim Blick auf die Abraumhalden draußen vor dem Fenster ließe sich der langsam wachsende Kegel als Migration der Form bezeichnen, oder als postindustrielle Variante der Königstochter inmitten all des Strohs, das sie zu Gold spinnen soll.
Die hier manifeste Aussichtslosigkeit entfremdeter Arbeit nimmt auch in Ni Haifengs hallenfüllender Mitmach-Aktion groteske Gestalt an, wo sich eine so majestätische wie lächerliche Kaskade wahllos aneinander genähter Fetzen auf ein Gebirge weiterer Textilreste senkt. Einzelnen, die das Ihre zum Gemeinwohl beizutragen wünschen, steht eine ganze Produktionsstraße funktionstüchtiger Nähmaschinen zur Verfügung. Eine solch ästhetische Erfahrung unbewussten Handelns ermöglicht auch Nemanja Cvijanovićs Ermunterung zur Betätigung einer unprätentiösen Spieluhr, woraufhin leise Die Internationale erklingt. Erst später, und damit zu spät, wird das jeweilige Opfer – vielmehr Täter – feststellen, dass die arglose Einwilligung zum Gehorsam gegenüber einem undurchschaubaren System dazu führt, dass Verstärker im Außenbereich die Botschaft verlautbaren. Durchschnittlich drei Personen pro Minute werden auf diese Weise zu unwissenden Rädchen im Getriebe und nötigen die Völker auf der Terrasse zum Hören der Signale. Dies wird wohl weniger zum letzten Gefecht inspirieren, als vielmehr dazu, über die räumlich und zeitlich entfernten Konsequenzen des eigenen Tuns früher nachzudenken, als es während der Industrialisierung nebst ihrer Spätfolgen geschah.
Charlotte Lindenburg ist freie Kunstkritikerin (http://charlotte-lindenberg.com/). Dieser Text entstand im Rahmen des Labor Kunstkritik 2012 in der Arthena Foundation.