Merz und Moticos


Kurt Schwitters & Ray Johnson im Max Ernst Museum Brühl des LVR, 26. Mai – 21. August

Was ist das für ein besonderer Menschenschlag, der da hergeht und aufsammelt, was andere wegwerfen, um zu retten, was zu retten ist? Sowohl von Kurt Schwitters (1887 – 1948) wie dem zwei Generationen jüngeren Ray Johnson (1927 – 1995) werden eigenartige Dinge erzählt:

Immerzu nach brauchbarem Material spähend, soll Schwitters – quasi gesenkten Blicks – herumgelaufen sein. Von Johnson wird berichtet, dass er öfters beim Durchwühlen fremder Mülltonnen erwischt wurde. Beide scheinen manische Sammler gewesen zu sein und nicht weniger eifrig in der Umwandlung ihrer Schätze in Bilder, deren poetische Kraft in starkem Gegensatz zu deren banalen Ingredienzen steht.

Die Ausstellung „Merz und Moticos“ verlässt sich ganz auf das für beide Künstler wesentliche Ausdrucksmittel, die Collage, und demonstriert an den kleinen Meisterwerken eindrücklich die historische Konditionierung ihrer Entstehung. In der Gegenüberstellung zweier wesensverwandter Positionen kommt das spezifische Zeitkolorit desto dramatischer zur Wirkung. Nicht nur, weil dem verwendeten Alltagsmaterial seine Epoche fest eingeschrieben ist, sondern auch weil die Künstler im Umgang mit dem Vorgefundenen unterschiedliche Ziele verfolgten. Die Collagen von Kurt Schwitters spiegeln sehr direkt die enormen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen der Zeit, die Zersplitterung von Weltbildern, die Auflösung der Form. Seine eigene Biographie ist ein Paradigma der Vergeblichkeit: Allein bei seinem wichtigsten und umfangreichsten Projekt, dem Merzbau, musste er auf Grund der Verfolgung durch die Nazis drei Mal von Vorne anfangen, ohne schließlich zu einem Abschluss zu kommen. Obwohl er es als Künstler in den 20er und 30er Jahren zu großer Anerkennung und Bekanntheit brachte, geriet er in den Jahren des Exils in Norwegen (1937-40) und England (1940-48) in Vergessenheit und hinterließ nach seinem Tod einen in alle Winde zerstreuten Nachlass, der sich bis heute einem abgeschlossenen Werkverzeichnis widersetzt.

Schwitters´ Collagen handeln von eben dieser Flüchtigkeit. Daher dieser melancholische Zug, der sie als zeitgemäße Interpretationen des klassischen Vanitas-Themas ausweist. Ihre prismatisch zusammengefügten Oberflächen setzen der alles verschlingenden Zerstörung eine ironische Phalanx entgegen. Aus einem ehemals verständlichen Kontext ragen sinnentfremdete Textruinen aus Behördenformularen, Zeitungsschnipsel, Kino- und Theaterbillets, Kalenderblätter und Fahrscheine mit Datums- und Ortsangaben. Zahlen und Formeln auf billigen Coupons sind die kümmerlichen Zeugen einer zerstückelten Realität. Eingebunden in die gebrochene Farbigkeit und fragile Materialität der Komposition unterstreichen sie das an der Kurzlebigkeit des Tagesgeschehens festgemachte Erscheinungsbild. So geschickt sich auch der Zusammenhalt durch die formalen Verbindungen aus Farben, Flächen und Linien aufbaut – unter der nuancenreichen Textur der Oberfläche verbirgt sich nur mit Mühe eine expressive und kaum gezähmte Unruhe. Die kleinformatigen „Merzzeichnungen“, wie Schwitters seine Collagen nannte, streben tendenziell auseinander. In Ihnen verdichten sich dynamische Prozesse zu einem Memento mori der Harmonie, das der Zeit mit dem Skalpell entrissen wurde. Ihr temporärer Gestus verlangt immer schon nach der nächsten Variation in der nächsten Collage. In der Ausstellung lässt sich die permanente Mutation der Erscheinungen anhand der Auswahl von rund 40 Arbeiten aus den Jahren 1920 – 1947 exemplarisch verfolgen.

Auch Ray Johnson arbeitet an einem Work in Progress. Im Gegensatz zu Schwitters beschreitet er allerdings nicht den Weg der linearen Progression. Stattdessen kreist seine künstlerische Produktion zirkulär um sich selbst. Die selbstreferentiellen Mehrfach-

überlagerungen seiner Collagen setzen häufige Überarbeitungen voraus, so dass lange Jahreszahlenlistungen nicht selten einen über zwanzig Jahre und mehr sich hinziehenden Entstehungszeitraum anzeigen. Johnson schafft sich einen eigenen Kosmos mit ihm selbst als Zentrum. Wie eine Spinne im Netz knüpft er von dort aus ein Gespinst aus Beziehungen und Verweisen. Aus den Bildfragmenten der Popkultur entsteht über die Jahre eine eigenständige Ikonographie mit wiedererkennbaren Versatzstücken. In seinen verschachtelten, rebusartigen Bilderrätseln werden immer wieder prominente Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe, Elvis, Andy Warhol – einmal auch Schwitters – zitiert. Künstler, wichtige Museumsleute, Schauspieler bevölkern Johnsons Himmel. Als Signets des künstlerischen Alter Ego fungieren aus Cartoons oder populären Brettspielen entlehnte Piktogramme – die doppelköpfige Schlange, Knopfgesichter, stilisierte Hasen- oder Teufelsköpfe. Mit dem Begriff „Moticos“ etabliert Johnson für seine Collagen ein Alleinstellungsmerkmal, ähnlich wie es schon Schwitters mit seinem einsilbigen „Merz“ vormachte. Hinter der Wortschöpfung, mit der er sowohl die Collage in ihrer Gesamtheit als auch ihre mosaikartigen Bausteine bezeichnet, verbirgt sich ein Anagramm des Wortes „Osmotic“.

Das Prinzip des Osmotischen lässt sich allgemein auf Johnsons Vorgehensweise übertragen. Als Initiator eines vielfältigen Austauschprozesses ist er der Erfinder der Mail Art. Er verschickt „Mailings“, auf den jeweiligen Adressaten zugeschnittene Collagen, Briefe mit Zeichnungen oder Texten mit der Bitte, etwas hinzuzufügen und das Ganze wieder an ihn zurück- oder auch an Dritte weiterzusenden. So entsteht ein großes Netzwerk von Personen, das 1963 zur Gründung der „New York Correspondence School“ führt. Auch als treibende Kraft anderer Gruppierungen, wie beispielsweise dem Duchamp-Fanclub anonciert er mit selbst gestalteten Einladungen Gruppentreffen und Ausstellungen, die teilweise fiktiv sind, teilweise tatsächlich stattfinden. Durch eine 1970 von ihm im Whitney Museum of Contemporary Art organisierte Ausstellung mit dem Titel „Ray Johnson: New York Correspondence School“ wird er einem breiteren Publikum bekannt. Die Ausstellung war bestückt mit Zusendungen befreundeter Künstler, die unjuriert gehängt wurden. Von Johnson selbst war keine einzige Arbeit dabei. Er erweist sich hier als früher Vorläufer gegenwärtiger Praktiken von den informellen Netzwerkbildungen bis zum Künstler-Kurator.

 

Besteht der Reiz der Mail Art gerade in ihrer strukturellen Offenheit, so ist Johnson bei seinen eigenen Collagen desto akribischer um ästhetische Vereinheitlichung bemüht. Er kaschiert die einzelnen Elemente auf verschieden dicken Lagen von Pappkarton und gestaltet damit reliefartige Oberflächen, deren Kanten er mit Schmirgelpapier abschleift. Die homogene Überformung durch sorgfältige Überarbeitung gehört zu seinen wesentlichen Gestaltungsmerkmalen. Die Arbeiten werden mit einem Geflecht von engen Schraffuren überzogen und mit handgezeichneten Details wie kleinen Tuschezeichnungen, Titeln, Namen oder Widmungen versehen. Das Schmirgelpapier kommt auch zum Einsatz, um einzelne Schichten abzuschwächen und die unterschiedlichen Bildfragmente optisch einander anzupassen. Seine Experimentierfreude führt zu differenzierten Lösungsmodellen, die in umfangreichen Werkgruppen ausformuliert wird. Für die Ausstellung wurden von ihm ebenfalls etwa 40 Exponate aus dem gesamten Lebenswerk ausgewählt. Die früheste Arbeit ist auf das Jahr 1954 datiert.

 

Wie Schwitters arbeitete auch Ray Johnson als Werbegrafiker, was sich in der insgesamt sehr graphischen Anmutung mit ihrer starken Schwarzweißreduzierung und den häufig verwendeten Graphemen bemerkbar macht. Die Popkultur gibt zwar die Folie ab für diese mit Witz und Ironie ausgestatteten, persönlichen Ordnungssysteme, aber Johnson arbeitet mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen deren anonyme Ästhetik an. Er macht aus dem Massenartikel etwas sehr Singuläres, Unverwechselbares und Hermetisches. Aber er zieht sich auch immer mehr in diese selbst erschaffene Welt zurück. In seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Freitod lebt er in seinem „Pink House“ sehr zurückgezogen mit seinen Collagen. Bis zuletzt unterzieht er die ihn umgebenden Werke einem permanenten Prozess der Bearbeitung, zerschneidet, ordnet und setzt wieder neu zusammen.

Sabine Elsa Müller


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