Expanded Territory

Expanded Territory


„Expanded Territory“ im Kai 10 – Raum für Kunst Kaistraße 10, 40221 Düsseldorf, bis 10.12.

Schon seit einiger Zeit ist in der zeitgenössischen Kunst eine Verschiebung zu beobachten, die ohne viel Aufsehen, dafür aber mit Beharrlichkeit geschieht. Ob bei der letzten Biennale in Venedig, der Ausstellung, die im Berliner Hamburger Bahnhof Kandidaten für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst vorstellt, oder jetzt in der Gruppenausstellung „Expanded Territory“ in Düsseldorf – man begegnet Künstlern und Künstlerinnen, deren Zugang zur Wirklichkeit sich durch eine paradoxe Verschränkung von Faszination und Widerwillen ebenso wie dem Hang zum Rätselhaften und Abgründigen auszeichnet.

Viele Künstler und Künstlerinnen betrachten die düstere Gegenwart mit einem postutopischen Blick: Ein Blick, der im Gegensatz zu dem prismatisch aufgehellten und zukunftorientierten utopischen Blick das Scheitern zulässt. Denn dafür gibt es in der Geschichte leider genügend Belege, und das führt nicht zuletzt zu dem häufigen Sich-Abarbeiten an der Vergangenheit. Die von Zdenek Felix in Düsseldorf kuratierte Ausstellung ist ein gutes Beispiel hierfür. Sie bringt Arbeiten der Amerikanerin Aida Ruilova, der Polin Agnieszka Brzezanska, dem italienischen Maler Giulio Frigo und der Tschechin Eva Kotatkova zusammen und manifestiert so, dass dieser Trend international zu sein scheint.

Doch was hat diese Tendenz zu bedeuten? In seiner Besprechung der Ausstellung der Kandidaten für den Preis der Nationalgalerie in der Süddeutschen Zeitung spricht der Kritiker Jörg Heiser von einer „tektonischen Verschiebung“ in der zeitgenössischen Kunst. Er vergleicht sie mit der Dekadenz-Bewegung in Frankreich des späten 19. Jahrhunderts, als sich mit Recht einige Künstler und Dichter gegen das zunehmend selbstgerechte Moralisieren des Naturalismus wandten. Dieser Vergleich ist jedoch nicht ohne Gefahr, denn die Dekadenz wird allzu schnell mit überspanntem Ästhetizismus und elitärem Gehabe assoziiert, wie sie in seinem Kultroman „Gegen den Strich“ im Jahre 1884 Joris-Karl Huysmans entwarf. Mit Ästhetizismus hat diese Verschiebung aber nichts zu tun, schon gar nicht mit einem elitären Bewusstsein. Vielmehr mit dem Gefühl, sich in einer Sackgasse zu befinden, aus der es nur einen Ausweg gib: Den jenseits von ästhetischen Regeln und dem Gefühl von Überlegenheit, sich der Wirklichkeit auszuliefern.

Beispielhaft in der Ausstellung in Düsseldorf ist der 2007 entstandene Film „Lulu“ von Aida Ruilova, in dem auch der deutsche Maler Thomas Zipp, ein geradezu typischer Vertreter dieses Trends, spielt. „Lulu“, als Anspielung an Alban Bergs Oper ist der Inbegriff des Scheiterns an menschlicher Unzulänglichkeit. Genüsslich werden die menschlichen Abgründe in einer Jugendstilvilla mit holzgetäfelten Wänden und Kristallleuchtern inszeniert. Dekadent und punkig gleichzeitig entzieht sich das Grauen jedoch jeder zeitlichen und klassenspezifischen Einordnung. An den Wänden dann Fotoreliefs, die dem menschlichen Körper als Hülle von Eitelkeiten nachgehen.

Der Körper ist auch ein Thema der Inszenierungen aus bearbeiteten Collagen und Büchern mit dem Titel „Education System“ von 2011 von Eva Kotatkova. Ein Körper, der seit der frühesten Kindheit gemaßregelt, diszipliniert, zerstückelt und wieder zusammengesetzt wird. Wunderbar zeigt sie in ihren bearbeiteten Blättern, die aus alten Büchern stammen, die fremdbestimmte aber auch die selbstaufgelegte Malträtierung des Körpers: der Körper als Objekt der Formung, der Körper im Aufruhr, der Körper vom Raum und Bildung – daher die Bücher – bedrängt.

Eher um den Intellekt geht es Giulio Frigo. „I Filosofo“ oder „Materia disposta secondo intelligenza“ sind die Titel seiner 2011 entstandenen Ölbilder. Sie zeigen den deutschen, an der Wirklichkeit scheiternden Denker Martin Heidegger. Die einzelnen Bilder sind untereinander mit Baumwollfaden verbunden in Erinnerung an die von Marcel Duchamp ausgestattete New Yorker Ausstellung „First Papers of Surrealism“ im Jahre 1942. Surrealismus mit seinem Mut zur Imagination und Übertretung aller Konventionen ist ein häufiger Bezug vieler junger Künstler heute.

Um Ganzheitlichkeit ist Agnieszka Brzezanska in ihren abstrahierenden Bildern bemüht. Das ist oft mit der Gefahr verbunden, ins Okkulte abzugleiten. Brzezanska begegnet ohne Furch dem Okkulten. Vor einem schwarzen Hintergrund tauchen zwei Kreise auf. Ein kleiner mit einer roten Mitte, ein größerer, der aus sich auflösendem Dampf gebildet zu sein scheint. „Occultation“ heißt dieses Bild von 2009. Und auch das ist ein typischer Zug der Verschiebung: Das Auftauchen des Geheimen, Rätselhaften, Hermetischen.

Damit wird aber dem Betrachter einiges abverlangt. Nicht nur, dass er mit dem Rätselhaften und dem Hin und Her zwischen Faszination und Widerwillen oft alleine gelassen wird.
Die Schrecken dieser Welt werden ihm ohne den ausgleichenden utopischen Ausblick schonungslos vor Augen geführt. Das kann anstrengend sein, zeugt aber davon, dass diese Kunst einen emanzipierten Betrachter voraussetzt, der nicht mehr belehrt werden muss. Und das ist die gute Nachricht.


tags: , , , , , , , ,