Troubled King of Toys

Troubled King of Toys


Hallo und willkommen zur dritten Ausgabe der Sammlung Richter. Heute reisen wir in die 1960er Jahre und in die neurotischen Windungen der menschlichen Seele.

Manches Mal steht hinter einer scheinbar radikalen, revolutionären Geste ein ernüchternd banales Karrieredenken. Manch anderes Mal (und hier wird es interessanter) steckt hinter einem erst einmal banalen Karrieredenken ein Haufen revolutionärer Ideen. Hier geht es nun um letzteres, genauer gesagt um Marvin Glass, einen Spielzeugproduzenten der 1960er und 1970er Jahre, der wahrscheinlich so manchem Kunstmarkt-Hai das Fürchten gelehrt hätte.

aus: Evening Post (Detail)

Ich habe ihn nie gekannt, wie auch? 1971 lag ich glucksend in einem Kinderwagen in der westfälischen Provinz. Und so ist alles, was ich nun schreibe eigentlich zusammengetragen von anderen: von Wegbegleitern und Kollegen, Journalisten der damaligen Zeit und Fans, die sich gefragt haben, was hinter all den tollen Spielzeugen stand, die ihre Kindheit anarchischer und wilder gemacht haben. Seit Jahren sammele ich ihre Erzählungen und bin dankbar für jeden Fetzen neuer Information, denn auch ich bin zutiefst fasziniert von dem Mann hinter dem Spielzeug.

Marvin Glass war vordergründig erst einmal Geschäftsmann mit Leib und Seele, seine Firma „Marvin Glass and Associates“ war ein gigantisches und florierendes Unternehmen. Erick Erickson, ein ehemaliger Mitarbeiter erinnert sich auf seiner Homepage an rund 75 Mitarbeiter, 6 feste Geschäftspartner, eine Crew aus Designern, Modellbauern, Patentanwälten und einen hauseigenen Koch namens Poy Tom.

Der Sitz des 1941 gegründeten Unternehmens war Chicago, dort residierte an der Ecke LaSalle Street und Chicago Avenue Marvin Glass und sein Team in einem festungsgleichen Bau mit, für damalige Zeiten, hochmodernen Sicherheitsvorkehrungen. Mit doppelten, abhörsicheren Wänden, einem durch die Empfangsdame Pauline videoüberwachten Eingangsbereich und zwei Tresorräume voller Spielzeugprototypen glich das Gebäude in den 60ern wohl eher einer James-Bond-Kulisse als einem Firmensitz. Hier beginnt dann auch gleich der leichte Wahnsinn. Marvin Glass war besessen von Geheimhaltung, es gab Schweigeverträge und jeder Entwurf wanderte abends in die Tresorräume. Es ging um Ideen.

Und Ideen hatte das Team in der Spielzeugfestung tatsächlich. Unglaubliche Ideen! Die Entwürfe aus Chicago prägten maßgeblich die Spielwelt der Zeit und brachten Anarchie und Aufruhr in eine ansonsten eher beschauliche Spielzeugwelt.

Yakeity Yak Teeth (Remake)

So entwarf Designer Eddy Goldfarb bereits 1949 die von Marvin Glass lizensierten „Yakkity-Yak Talking Teeth“, einen herrlich dämlichen Scherzartikel, der heute so klassisch ist, dass man denkt, es hätte ihn immer schon gegeben.

1960 folgte ein weiterer großer Wurf in Form eines aufziehbaren Spielzeugroboters namens „Mr. Machine“. Mr.Machine beinhaltet eigentlich schon alles, was Marvin-Glass-Spielzeuge ausmacht: Er ist groß, aus Plastik, zerlegbar, irgendwie vertrackt und hauptsächlich faszinierend anzuschauen:

Die Legende besagt, dass Mr.Machine aus einem Streit zwischen Glass und seiner damaligen Ehefrau herrührt, die ihn in ihrer Verzweiflung über seine manische Arbeitsbesessenheit zurief „Immer nur arbeitest Du! Immer nur erfinden erfinden! Du bist doch Mr. Machine!“ Selten wurde inner-ehelicher Streit so gewinnbringend und entzückend umgesetzt. Der eigentliche Konstrukteur des Mega-Sellers war jedoch nicht Glass, sondern der ehemalige Uhrmacher Leo Kripak, der für Glass arbeitete.

Marvin Glass war, ganz wie Walt Disney oder Sergei Djagilew, ein besessener Entrepreneur, jemand der Menschen auf seltsame Art gleichzeitig ausbeutete und erblühen ließ. Ob Kripak ohne Glass einen Mr. Machine gebaut hätte, ist fraglich… Ähnlich wie Djagilew oder Disney war auch Glass von mannigfaltigen Neurosen und Komplexen gebeutelt.  Ein 1960 in der Saturday Evening Post erschienener Artikel namens  „Troubled Kind of Toys“ lässt da ein bisschen tiefer blicken. Das erste Bild zeigt dann auch gleich Glass, wie er sich mit der von ihm erfundenen Scherz-Spritze „Hypo-Phony“ einen Schuss setzt. „The reigning genius in an immensely lucrative business, Marvin Glass considers himself a complete and utter failure“ ist die passende Artikelunterschrift. Was nun folgt, liest sich wie die klassische Beschreibung der prototypischen zerrissenen Künstlerpersönlichkeit, wie man sie sich besser kaum ausdenken kann:

„To Glass, who reads Plato and worships Beethoven, the daily self-reminder that he is not advancing anything but his bank account is adequate reason for spending many of his waking hours hating himself. Since he never sleeps more than four to five hours nightly („I dread sleeping longer; it´s like being dead“) this adds up to a lot of brooding time. „I´m a frustrated man“ he says quietly. „I never wrote a play or a book or relieved anybody´s suffering for an hour“. Instead he makes himself suffer too. Now divorced, he has been married three times, twice to the same woman, and has been in psychoanalysis for four years.  Except for an occasional  weekend in Las Vegas he has not taken a vacation for fifteen years. He smokes three packs of cigarettes and about a dozen one-dollar cigars daily. Every headache is symptomatic of a brain tumor to him, yet he refuses to take pills because „I´m afraid they´ll make me stupid.““

Evening Post

Der solchermaßen zerrissene Künstler bringt in den nächsten Jahren einen Hit nach dem anderen auf den Markt, er ist einer der ganz wenigen Spielzeugdesigner, der ein eigenes Logo auf die von großen Firmen eingekauften Spiele aufbringen darf, die „Ideal Toy Company“ (auf die in einer späteren Kolumne dringend auch genauer eingegangen werden muss) nutzt sogar Mr.Machine als Logo ihres Unternehmens. Marvin Glass Spiele sind immer ein bisschen „off“, immer ein bisschen Camp, etwas was Eltern wahrscheinlich nicht so gut gefiel, Kinder aber umso magischer anzog.

Sein militaristischer Kampfroboter „Robot Commando“ (1961), der das Kind zum fernsteuernden Herrscher über die Welt machte und auch schon mal eine nervig schreiende Babypuppe mit Geschossen aus seinem sich langsam öffnenden Kopf liquidierte, fand in der zeitgenössischen Berichterstattung nur wenig Gegenliebe:

Marvin Glass war kurz gesagt der Untergang des Abendlandes.

„Fang die Maus“ oder „Mouse Trap“ ist ein gutes Beispiel für ein weiteres typisches Spiel. Von Marvin Glass Mitarbeiter Harvey Kramer designt und 1963 erstmals erschienen, wird das Spiel (wie viele andere Spiele aus Glass´ Ideenwerkstatt) bis heute immer wieder aufgelegt. An sich ein klassisches Würfelspiel, besteht der Reiz darin, nach und nach eine wahnsinnige dreidimensionale Mausefalle aus bunten Plastikteilen aufzubauen die am Ende in einer absurden Kettenreaktion rattert und knattert und eine Mäusefigur fängt.

Glass, der so hochneurotisch seine Ideen in Tresoren verbarg, hatte die Idee der absurden Kettenreaktions-Maschine schlichtweg gestohlen. Der Cartoonist Rube Goldberg war seit Jahrzehnten bekannt für ebensolche schrägen Erfindungen, zusammen mit dem englischen Illustrator William Heath Robinson gilt er heute als der Vater dieser herrlich komplizierten mechanischen Abfolgen. Anscheinend war der 1963 bereits 80jährige Goldberg alles andere als begeistert vom Erfolg seiner Idee in fremden Händen, das versierte Anwaltsteam von Glass schmetterte jedoch jeden Versuch des alten Herrn ab, zumindest ein bisschen am Erfolg des Spiels beteiligt oder namentlich erwähnt zu werden. Wen wundert es, dass Herr Glass Angst vor der Welt hatte …

Jeder kennt mindestens ein Marvin Glass-Spiel, sei es das 1965 erstmals erschienene „Operation“ bei dem man mit spitzen Fingern und einer elektrisch verkabelten Metallpinzette kleine Plastikdinge aus dem auf Pappe aufgedruckten Patienten entfernen muss, ohne an den metallischen Rand der Operationsöffnung zu gelangen:

oder etwa die ebenfalls 1965 erschienenen „Rock´em Sock´em Robots“ die sich in einer Plastikarena per Knopfdruck beeindruckend harte Boxkämpfe liefern.

Wunderbar ist auch „Lite Brite“ aus dem Jahr 1967, ein „Kreativspiel“, bei dem man mit kleinen Plexiglas-Steckerchen wunderschön leuchtende Bilder in eine schwarze Fläche stecken kann.

Oder wie wäre es mit „Spukschloss“ (1970), einem dreidimensionalen Geisterschloss mit Falltüren und Klappmechanismen, durch das man freudvoll bibbernd seine Figuren zieht.

Spukschloss Spiel

Selbst nach seinem Tod im Jahre 1974 entwickelte das Team seiner Firma noch so legendäre Spiele wie das 1979 erschienene und von Ralph H. Baer entwickelte „Senso“, eines der ersten elektronischen Spiele. Stilgerecht fand die Premiere von Senso dann übrigens auch im New Yorker Studio 54 statt. Marvin Glass hätte es wahrscheinlich gefreut.

Die Liste der Marvin Glass-Spiele ist so lang wie beeindruckend: Erick Erickson hat einige davon auf seiner Page aufgezählt.

Besonders magisch ist für mich das 1969 erschienene „Astro-Lite“, ein Spiel, bei dem man futuristische Städte aus Plexiglasteilen baut, um diese dann dramatisch von unten zu beleuchten. Allein den riesengroßen Karton in den Händen zu halten muss für ein Kind der Zeit vollkommen überwältigend gewesen sein, ich war jedenfalls sprachlos als der gigantische Karton aus den USA eintraf, und ich bin über 183 cm groß!

Astrolite

Was all diese Spielzeuge so besonders macht, ist der leichte Wahnsinn, der vielen von ihnen innewohnt. Es entsprach nicht unbedingt pädagogischen Richtwerten der Zeit ein Spiel namens „Time Bomb“ zu entwickeln, das einer tickenden Bombe ähnelt, die sich die Kinder solange zuwerfen müssen bis sie bei einem Mitspieler explodiert.

Die Originalverpackung des weiter oben schon erwähnten „Operation“-Spiels ziert ein Chefarzt der während der laufenden Operation die Asche seiner brennenden Zigarette in den geöffneten Patienten zu verlieren scheint. (Ein Detail, das inzwischen retuschiert wurde) „Ants in the Pants“ wiederum beschreibt nicht nur Marvin Glass eigene Hypernervosität, es  lässt Kinder freudvoll große Ameisen in eine noch größere frei stehende Plastikhose schnipsen. „Inchworm“ (1971) ist eine surreale Alternative zum klassischen Pony: Eine große grüne Raupe mit Hut, auf dem süße kleine Kinder zur Verwunderung ihrer Eltern durch Wald und Wiese reiten können.

In dieser Hinsicht war Marvin Glass hinter all der Karriere wirklich revolutionär, er brachte die seltsamsten Dinge in die Kinderzimmer der Welt und hatte stets einen Riecher für den Spaß am Grotesken.

Ich besitze trotz aller Verehrung nur eine Handvoll Spiele von Marvin Glass and Associates, ich lasse mir Zeit. Die Zollgebühren für gigantisch große Pakete sind hoch und die Originalauflagen der frühen Spiele sind auf dem Sammlermarkt oft schon recht steil bepreist. Man muss Geduld haben, um unversehrte und funktionstüchtige „Erstausgaben“ zu ergattern. Wenn es aber demnächst gut läuft mit der Kunst, wird auf jeden Fall Gaylord bei mir einziehen, ein lebensgroßer müder Hund aus Plastik der 1962 die Tresore der Glass-Festung verließ und mithilfe einiger Batterien tatsächlich langsam und bedächtig läuft (nach der Werbung hat man einen Ohrwurm).

Oder wie wäre es mit „Dandy the Lion“?

am liebsten vielleicht aber doch einen großen „Smarty Bird“?

Marvin Glass hatte alle diese seltsamen Wesen in seinen Tresoren versteckt, eine Welt wie aus Alice im Wunderland, zusammengehalten und manisch angetrieben von einem neurotischen Kontrollfreak. Glass war sicherlich ein anstrengender und oft unfairer Boss, zwanghaft bedacht auf Geheimhaltung und Profit, selbst aber gerne gnadenlos im Stehlen und Verwerten fremder Ideen. Und so wie man sich fragt, wie all die Schauspieler es wohl damals mit Fassbinder ausgehalten haben (Kippenberger, Disney, der frühe Ridley Scott oder Warhol wären nur einige von vielen weiteren Beispielen), so scheint es jedes Mal doch etwas Richtiges in all diesem grundlegend Falschem zu geben. Es ist eine seltsame Getriebenheit, die da aufflammt, die andere mitreißt, und manchmal ist es eben vielleicht mehr als nur eine leere große Geste.

Playboy

Zehn Jahre nach dem Artikel der Saturday Evening Post erscheint ein Artikel im Playboy. Im Jahr 1970 berichtet dieser unter der Überschrift „A Playboy Pad: Swinging in Surburbia“  auf 5 reich bebilderten Seiten über Marvin Glass´ luxuriöses Anwesen. Unter echten Picassos räkeln sich nackte vollbusige Damen im Whirlpool, in der hauseigenen Sauna wird erotisch massiert. Alles in allem zeigt hier jemand mehr als deutlich, dass er es sich selbst mehr als deutlich zeigen will. Marvin Glass erscheint plötzlich wie ein invertierter Michael Jackson. Wenn Jacko auf der Bühne Verruchtheit inszenierte, um zuhause auf der Neverland Ranch Spielzeug zu sammeln, funktioniert bei Glass der Kontrast andersherum. Ein Spielzeugkönig baut sich ein Playboyland.

Playboy 02

Playboy Detail 06

1974 stirbt Marvin Glass, zwei Jahre später läuft Albert Keller, Spielzeugdesigner bei Marvin Glass and Associates in der Firma Amok und tötet den Geschäftsführer Anson Issacson und zwei weitere Mitarbeiter, um sich dann selbst zu richten. 1988 löst sich die Firma auf, das Gebäude ist inzwischen abgerissen. Düsternis zieht über die Welt. Was soll man nur tun?

Ich jedenfalls werde weiter Marvin Glass´ Spukschlösser und Lichtstädte sammeln und mich in dunklen Momenten neurotisch in meine vielfach gesicherten Tresorräume zurückziehen. Bis nächsten Monat verbleibe ich mit den liebsten Grüßen

Claus

 

Claus Richter ist Künstler und lebt in Köln.


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