Tatiana Trouvé


Noemi Smolik über „I tempi doppi“ im Kunstmuseum Bonn, bis 4.5.2014

„350 Points Towards Infinity“ – der Titel dieser zentralen Installation deutet darauf hin, dass es in der Ausstellung um Grenzenüberschreitungen geht. 350 kleine, kreiselförmige Gewichte schweben an Metalldrähten schräg im Raum, als seien die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft gesetzt. Tatsächlich sind es im Boden eingelassene Magneten, die in dieser Arbeit die Kräfte beherrschen. Es ist eine von acht Arbeiten, die die in Italien geborene, im Senegal aufgewachsene und heute in Paris lebende Bildhauerin Tatiana Trouvé im Kunstmuseum Bonn präsentiert. Ihre erste Ausstellung in einem deutschen Museum verdient Aufmerksamkeit, denn was sie auszeichnet ist ein neuer künstlerischer Umgang mit Objekten.

Von der Decke baumeln zwei schwarze Objekte aus Bronze, die an flatterige Plastiktüten erinnern. Aus ihnen fallen Tropfen, als sei die soeben eingekaufte Wasserflasche ausgelaufen. Mal fallen die Tropfen schneller, mal langsamer in die beiden im Boden eingelassenen Luken. Zwei übereinander liegende alte Stoffmatratzen, die sich scheinbar mit Urin voll gesogen haben entpuppen sich beim näheren Betrachten als Kunstharzobjekte und verfärbtes Wasser. Trouvé spielt mit Assoziationen und Erwartungen und setzt dem Betrachter immer wieder rätselhafte Entdeckungen entgegen. Ihre Installationen hat die Künstlerin teils eigens für die Räume des Kunstmuseums entwickelt, teils bestehende Arbeiten an die Bedingungen des Museums angepasst. Auffällig ist hier, dass die meisten Objekte der Schau in einer Verdoppellung auftreten. Jeder Gegenstand scheint einen Schatten, einen Doppelgänger oder gar einen Geist neben sich zu haben.

Oft – auch im Katalog zu dieser Ausstellung – wird Trouvés künstlerische Herangehensweise durch einen subjektiven und psychologischen Umgang mit Objekten charakterisiert. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Hier geht es viel mehr um eine Form der Entsubjektivierung und Entpsychologisierung, von der schon der französische Soziologe Bruno Latour spricht und die in jüngster Zeit der amerikanische Philosoph Graham Harman aufgreift, der mit dem Begriff der „objektorientierten Ontologie“ das philosophische Denken bereichert. Die Objekte in Trouvés Installationen scheinen ihr eigenes Leben zu führen, das sich unabhängig von dem betrachtenden Subjekt entfaltet und für diesen nicht nur unverständlich, sondern auch unheimlich bleibt.

Losgelöst vom Betrachter auch die Installation „I Cento Titoli“ – Hundert Titel, die Zeit als ihr vorherrschendes Material hat und ihren Titel über die Tage und Jahre eines Jahrhunderts entwickelt. Aber welches betrachtende Subjekt lebt schon hundert Jahre?

Trouvés Objekte entfalten ihr Eigenleben ähnlich den animistischen Objekten mit denen die Künstlerin in ihrer Jugend im Senegal konfrontiert wurde. In dieser Welt existiert jedes Ding in zwei identischen Formen; der sichtbaren und der unsichtbaren, der materiellen und der geistigen. Vielleicht kommt daher der Hang dieser Künstlerin zu Doppellungen und der Wunsch, das Unsichtbare durch das Sichtbare, das Leichte durch das Schwere und umgekehrt zum Ausdruck zu bringen. Auch in Zukunft will sie, wie sie selbst sagt, „Skulpturen von Echos, vom Fallen, Leere, Luftleere, Magnetismus“ machen. Man darf auf weitere Irritationen gespannt sein.

Im Anschluss an das Kunstmuseum Bonn wandert die Ausstellung an das Museion Bozen und die Kunsthalle Nürnberg.

Dieser Artikel erschien in gekürzter und leicht veränderter Fassung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.3.14


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