Vor dem Gesetz


Skulptur der Nachkriegszeit und Räume der Gegenwartskunst, Sabine Elsa Müller über die letzte programmatische Ausstellung von Kasper König im Museum Ludwig Köln, 17.12.2011 – 22.04.2012

Kasper König wird ja in Köln fast wie ein Heiliger verehrt. Der hiesige Kunstbetrieb zittert förmlich vor dem Tag, an dem der weltweit hoch geschätzte Impresario das Kölner Flaggschiff, das Museum Ludwig, schließlich doch wird verlassen müssen. Wohin wird die alte Kunststadt dann steuern?

Wenn er im November nächsten Jahres die Schlüssel an seinen Nachfolger, Philipp Kaiser, abgibt, hat er nicht nur zwölf Jahre Amtszeit als Direktor des Museum Ludwig hinter sich, sondern als Ausstellungsmacher Geschichte geschrieben. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an seine letzte programmatische Ausstellung, „Vor dem Gesetz“. Lässt sie sich in die königliche Riege der herausragenden Statements zur Gegenwartskunst von „Westkunst“ (Köln, 1981) und „Von hier aus“ (Düsseldorf, 1984) bis zu „Der zerbrochene Spiegel“ (Wien, 1993) einordnen?

Fest steht, zum guten Schluss wird es noch einmal richtig spannend. König geht ans Eingemachte. Er stellt das Museum selbst auf den Prüfstein und befragt seine Glaubwürdigkeit als institutioneller Raum, der sowohl gegenüber der Geschichte wie dem Zeitgeschehen in der Verantwortung steht und einem gesellschaftlichen Auftrag verpflichtet ist. Diese Verantwortlichkeit wird jedoch nicht als Illustration einer theoretischen Fragestellung, sondern als ungewöhnlich persönliche, emphatische Setzung transportiert. Mit einem glänzenden Schachzug positioniert König mitten zwischen den transformativen, irrlichternden „Räumen der Gegenwartskunst“ das introspektive, von existentieller Erschütterung durchdrungene Menschenbild der Nachkriegsskulptur als Scharnier zwischen der Aufgabe eines Museums als Ort des kollektiven Gedächtnisses und der Notwendigkeit, eine unmittelbare ästhetische Erfahrung jenseits des marktstrategischen Kalküls zu ermöglichen. Denn wie kann Kunst wirken, wenn nicht als unmittelbare Erfahrung.

 

Stresstest pur also für das Gesamtkunstwerk Museum. Nicht der nüchterne Wechselausstellungsraum im Untergeschoss, sondern die Beletage, die lichtdurchflutete Ausstellungsebene unter den charakteristischen Scheddächern dient als Bühne dieser Liaison zwischen Kunstgeschichte und aktuellen Positionen, die ihre Selbstbehauptung im musealen Kontext durch nichts als ihre schiere Präsenz rechtfertigen. Kafkas titelgebende Parabel „Vor dem Gesetz“ lässt sich in diesem Zusammenhang durchaus auch als Metapher für das Museum lesen, das die Werke der Kunst aussortiert, mit der Aufnahme in seinen Hoheitsbereich nobilitiert bzw. durch Ausschluss ebenso kategorisch fernhält von Ruhm, Preis und Ehr. Der Spalt zwischen drinnen und draußen geht durch alle Instanzen.

Die teilweise brandneuen, eigens für die Ausstellung konzipierten Installationen haben es also geschafft – ebenso wie die in Vergessenheit geratenen Skulpturen der Nachkriegszeit aus den Depots. Quasi als „Türhüter“ zur kanonisierten Spitzenkunst fungieren einzelne Werke der Sammlung: Carl Andres „Timber Piece (Well)“, 1964-70, George Segals „The Restaurant Window I“ von 1967 und der „Anröchter Dolomit, gespalten und geschnitten“, 1991, von Ulrich Rückriem ragen wie auratische Blöcke aus den kuratorisch inszenierten Turbulenzen, zeitlos und unanfechtbar. Dagegen wirken die Statuen der 50er Jahre denkbar prekär: Sie geraten aus dem Gleichgewicht, wirken gebrochen und sind auf merkwürdige Stützkonstruktionen angewiesen wie das beeindruckende „Krallenwesen“ („Le Griffu“) von Germaine Richier oder Reg Butlers zentrifugale „Figure in Space“. Andere konzentrieren sich nach innen, auf eine leere Mitte, wie Gerhard Marcks´ „Gefesselter Prometheus II“ oder Lehmbrucks „Sitzender Jüngling“, der 1916/17, ein Jahr nach der Erstveröffentlich von Kafkas Prosatext entstanden ist und den Künstlern nach Kriegsende einen Anknüpfungspunkt vorgab.

 

Nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs lässt sich unter dem Eindruck des Kriegstraumas, der Zerstörung, des Hungers, des Holocaust und vollkommenen moralischen Versagens das Menschenbild nur mit allergrößter Anstrengung und unter Preisgabe jeder künstlerischen Distanz aufrechterhalten. Die formalen Mittel fallen wieder auf den Stand vor der Avantgarde der zwanziger Jahre, in die Zeit des Expressionismus zurück. Ganz im Sinne von Adornos Diktum, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich sei, ist die Kunst in einem erstarrten kreatürlichen Ausdruck gefangen. Die nackte Existenz, die Würde des Menschen, seine Verletzlichkeit werden mit einer fast hilflosen, aber anrührenden Unmittelbarkeit verhandelt. Daraus entspringt eine Wirkkraft, die ihr nach Meinung Kasper Königs und seines Co-Kurators Thomas D. Trummer eine Schlüsselfunktion zuweist bei der Frage nach der conditio humana heute. Denn auch unter den zeitgenössischen Werken dominieren Formen der Instabilität, der Vergeblichkeit und des endlosen Kreisens um die eigene Achse. Bruce Nauman, auch für Kasper König einer der wichtigsten Künstler unserer Zeit, schafft mit seinem „Carousel“ von 1988 dafür ein zwingendes Bild, das bereits zu den Ikonen der zeitgenössischen Skulptur gehört, das aber in dieser Gegenüberstellung wie eine Weiterentwicklung der zwischen Verstümmelung und embryonaler Verpuppung erstarrten Leiber von Reg Butler wirkt.

Die Räume der Gegenwartskunst packen den Besucher mit einer unerwarteten Wucht. Schon am Beginn des Parcours wird er von Jimmie Durhams großflächiger Installation „Building a Nation“ (2006) förmlich verschluckt. Ein sonderbar geordnetes Labyrinth aus Brettern, billigsten Bau- und Einrichtungsmaterialien und verstümmelten Baumstämmen ist gespickt mit handgeschriebenen und kopierten Anschlägen, die Zitate von bedeutenden Persönlichkeiten der Vereinten Nationen von Amerika wiedergeben. Die rassistische Denkweise dieser Staatsmänner, Wissenschaftler und anderer einflussreicher Männer ist kaum zu ertragen, aber die zahlreichen, an allen möglichen Stellen montierten Spiegel machen deutlich, dass es im Grunde um die eigene Haltung geht. Immer wieder dreht sich die Denkrichtung um die eigene Achse. Andreas Siekmann nimmt den Besucher unter Führung von Dante und Vergil mit auf eine Reise durch „Die Exekutive“, die „Politik des ausgeschlossenen Vierten“. Über zwei Räume erstreckt sich seine Installation aus 92 Zeichnungen, die nach Bildern aus dem Internet entstanden sind. Detailgetreu verdichten sich Szenen aus Polizeikesseln bei Gipfeltreffen, der Turnschuhherstellung in Niedrigstlohnländern oder von Menschen ohne Papiere bei der Arbeitssuche zum Kaleidoskop einer modernen Hölle.

 

Die Szenarien reihen sich in einem logischen Spannungsbogen aneinander und befruchten sich gegenseitig. Von zupackender Eindringlichkeit ist die Gegenüberstellung von Pawel Althamers „Brodno People“, die von Laien nach dem Vorbild der „Bürger von Calais“ entworfen wurden, mit einer Serie Candida Höfers über eben jenes Meisterwerk von Rodin und seiner Präsentation. Danach betritt man die beiden herausragenden Räume der bisher nur wenig bekannten Phyllida Barlow, der jetzt allerdings auch der Kunstpreis Aachen 2012 zugesprochen wurde. Die 1944 in Newcastle/England geborene Künstlerin arbeitet stets in Bezug auf konkrete Räume. Sie hat mit „balconies“, „staircases“ und einer dritten Arbeit mit einem unaussprech- und schreibbaren Titel eine ungemein dichte Situation geschaffen, die mit vermeintlich einfachen Mitteln Empfindungen wie Freiheit und Gefangenschaft, Zusammenbruch und Aufbau, Ausgeschlossen- und Eingeschlossen-Sein über eine architekturbezogene Formsprache evoziert. Zusammen mit Karla Black gehört sie zu denjenigen, denen es gelingt, die Kategorie des Menschlichen über eine nicht-figurative, rein materielle Eroberung des Raumes in das Zentrum des künstlerischen Diskurses zu stellen. Die Relevanz der eigenen Zeitgenossenschaft spiegelt sich in den Künstlerräumen sehr unterschiedlich, aber mit einer durchgängig spürbaren Ernsthaftigkeit, die so etwas wie einen ethischen Impuls in dieser Ausstellung freisetzt.

Sabine Elsa Müller

Neben dem angenehm bescheiden dimensionierten Katalog (24,80 €), der sowohl einführende Texte zur Konzeption als auch Abbildungen und Texte zu allen ausgestellten Arbeiten enthält, ist die eigens zur Ausstellung zusammengestellte Filmreihe zu empfehlen.
Infos unter

www.museum-ludwig.de.


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