Im Widi­wondel­wald

Im Widi­wondel­wald


Claus Richter über die Blaue Mauritius der Kinderbuchsammler: Hilde Krügers konstruktivistische Kinderbücher aus den 1920er Jahren.

„Der Widiwondelwald“ von Hilde Krüger erschien im Jahre 1924 und ist neben den Büchern von Tom Seidemann Freud und den elaborierten Klappmechanismus-Werken von Lothar Meggendorfer heutzutage eines der seltensten und hochpreisigst gehandelten deutschen Kinderbücher seiner Zeit.COVER der Bücher

Ich habe Jahre über Jahre gejagt und gesucht, um mein Exemplar zu ergattern und bin inzwischen sogar stolzer Besitzer des dritten „Hurleburles Wolkenreise“ betitelten Teils von Hilde Krügers Bildebuchreihe aus dem Jahr 1926, es wird wahrscheinlich weitere Jahre dauern, bis auch der zweite Teil in die Sammlung Richter einzieht.

Es spricht für sich, dass gerade avantgardistische Bücher, wie Krügers „Widiwondelwald“ heute so begehrt sind. Als ich vor Jahren einmal in einem Münchner Antiquariat mit dem Besitzer ins Gespräch um die Spezialisierung vieler Sammler auf genau diese seltenen und obskuren Schätze kam, antwortete er mir nicht zu Unrecht: „Es ist komisch, ich verstehe das schon, dass man sich in diese Bücher verliebt, aber so viele Sammler lassen ganz außer acht, dass es aus derselben Zeit unheimlich viele klassische Bilderbücher mit wundervollen Illustrationen gibt, die wahrscheinlich ebenso sammelwürdig sind.“

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„Der Widiwondelwald“

Warum also Hilde Krüger, und wer ist das überhaupt? Die wenigen konstruktivistischen Kinderbücher der 20er Jahre, die heute gesammelt werden stammen oft aus der Hand von Künstlern und Künstlerinnen, die neben ihrer künstlerischen Praxis quasi als Nebenweg ein oder zwei Kinderbücher publizierten. So zum Beispiel das großartige „Gouden Vlinders“ (1927) der niederländischen Lou Loeber in der die für ihre konstruktivistischen De Stijl-Kompositionen bekannte Künstlerin Gedichte in hochabstrakte und doch leicht lesbare Bilder umsetzte. Man fragt sich heute, welche Kinder in solch einem Buch geblättert haben? Bei welchem Buchladen konnte man es erstehen? Loeber, die immer Wert auf soziale Gerechtigkeit legte und ihre Arbeiten oft in preisgünstigen Großauflagen publizierte hatte wahrscheinlich das Durchdringen der (kindlichen) Lebenswelt mit offeneren Bildkonzepten vor Augen als sie das grandios illustrierte Buch entwarf, wie so oft war die Zeit wohl noch nicht bereit und die in kleinen Auflagen publizierten Bücher fanden ihren Weg wohl eher in wohlhabende bildungsbürgerliche Haushalte oder die Kinderzimmer befreundeter Künstler. Was erklärt, warum z.B. „Gouden Vlinders“ heute so gut wie gar nicht im Antiquariatsmarkt zu finden ist. Wenn es dann alle paar Jahre einmal auftaucht, muß man eine mittlere Hypothek aufnehmen, um es in den Händen halten zu können. So ist das mit den zu frühen Meisterwerken, verrückt, aber anscheinend eben der Weg der Dinge. Neben Loeber schufen beispielsweise auch Künstler wie Floris Jespers („Kinderlust“ 1923) und Konrad Mullerfurer („Uit Huis en Hof“ 1921) grandiose konstruktivistische Kinderbücher, die aber wohl eine ähnlich schmale Verbreitung fanden und heute daher ausgesprochenen Seltenheitswert haben.

Hilde Krüger war wohl keine bildende Künstlerin. Auf jeden Fall keine, an die sich die Welt erinnert. Niemand weiß es genau. Selbst über ihr Geburtsdatum herrscht Unklarheit. Schlicht und ergreifend ist ihre Biographie anscheinend verloren, ein Rätsel. Krüger bleibt eine Unbekannte. Ihre drei Kinderbücher bilden heute jedoch auf geradezu ergreifende Art den Versuch ab, zeitgenössische Kunst offen und unvoreingenommen in das Leben außerhalb der abgezirkelten Kreise der Kunstwelt zu bringen, einen Anspruch, der viele Avantgarde-Bewegungen der Zeit ausmachte und der bekannter- und trauriger Weise immer wieder scheiterte.

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„Der Widiwondelwald“

1924 waren Krügers illustrative Übernahmen konstruktivistischer Kunst mehr als gewagt, Kinderbücher waren im realistischen oder süßlich idealisiertem Stil illustriert, eine Welt aus Dreiecken voller gezackter Wesen war nicht unbedingt was sich die Durchschnittsfamilie zur Erbauung ihrer Zöglinge vorstellte. Und doch begann fast zeitgleich beispielsweise die schon Eingangs erwähnte Nichte Sigmund Freuds unter dem geschlechtsneutralen Namen „Tom Seidmann Freud“ Kinderbücher voller zugleich seltsam sachlicher und außerweltlich somnambuler Kinderfiguren zu publizieren, in denen eine ganz andere Welt zutage trat als die apfelbäckiger braver Kindlein. Weltfluchten und Alternativwelten waren ebenso Thema wie die Abgründe der Psyche und die Magie des Alltags. Auch Lily Hildebrand veröffentlichte bereits 1918 mit „Klein Rainer´s Weltreise“ ein Kinderbuch mit hochgradig reduzierten Buntpapierschnitten, es lag anscheinend in der Luft. Im Nachhinein fügen sich diese solitären Werke zu einem Bild einer von Avantgarde durchdrungenen Zeit, die es wohl so leider eben nie gegeben hat, aber uns manischen Sammlern und Lesern obliegt es, knapp 90 Jahre später, die verstreuten Teile zu etwas zu fügen, was uns vielleicht nicht nur über leicht zu vergessene Nebenströmungen einer scheinbar bereits umfassend erzählten Geschichtskonstruktion lehrt, sondern auch ein bisschen Klarheit über unsere eigenen Wünsche und Erzählweisen schafft.

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Details aus „Der Widiwondelwald“

Hilde Krügers Bücher sind für mich wie Relikte einer ideellen Welt, in der Avantgarde und Leben fröhlich glucksend ineinanderfließen, in der so etwas wie der Glaube an Öffnung und vielleicht sogar Durchdringung von Utopie und Alltag noch nicht so zermürbt war, wie einige Jahrzehnte später. Ähnlich spielerische Annäherungen von sozialer und künstlerischer Utopie und gestalteter Lebenswelt finde ich persönlich erst wieder Anfang der 1970er Jahre, nachdem das Grauen des zweiten Weltkrieges und die darauf folgende drückende-paranoide Muffigkeit von den heute ja so gerne verlachten „68ern“ zornig aufgemischt wurde.
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„Hurleburles Wolkenreise“

Daher vielleicht das Begehren, das eben Bücher die von Hilde Krüger in mir erwecken. Es sind heimliche Verbündete im Sehnen nach genau der Öffnung und Freigeistigkeit, die die eine kurze Zeitlang auch die Pädagogik der 1970er Jahre bestimmte, und an der ich als Kind dieser Zeit selbst in meinem behüteten Reihenhausleben in einer westfälischen Kleinstadt ein bisschen schnüffeln durfte. (Nämlich genau eben durch einige ziemlich wilde Kinderbücher und sage und schreibe tatsächlich durch Kinderfernsehprogramme, die von Selbstermächtigungsaufrufen und spielerischer Anarchie eine Zeitlang wirklich durchdrungen waren.)

Sowohl die avantgardistischen Kinderbücher der 1920er als auch meine eigene Kindheit ist nur noch Erzählung und wie so vieles durchdrungen von sehnsuchtsvoller, irrationaler Projektion, und doch wohnt beispielsweise einem einfachen Kinderbuch wie Hilde Krügers grundlegend ja eigentlich ganz konventionell erzählten Geschichten von Hurleburle und Widiwondel eine Energie inne, an der ich mich labe und von der ich zehre, wenn mir alles doof und eng vorkommt. Genau wie es Leute vielleicht schon zu Hilde Krügers Zeiten getan haben. Eine Erinnerung daran steht in meinem Regal und wird mit großer Bewunderung von Zeit zu Zeit durchgeblättert.

Bis zum nächsten Mal verbleibe ich mit dreieckig gezackten und wie immer hoffnungsvollen Grüßen

yours truly
Claus

Claus Richter ist Künstler und lebt in Köln.


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