Tamara Lorenz

Tamara Lorenz


Nichts deutet darauf hin, dass dies der letzte heiße Sommertag in diesem Jahr sein würde. Ein geräumiger Hof, in dem sich die Hitze staut, Tomaten und Blumen in großen Kübeln, daran anschließend Wohnräume; ganz hinten das Atelier. Das Areal im Schatten des Bahndamms liegt mitten in Köln und wirkt dennoch seltsam aus der Zeit gefallen. Eine eigenartige Übereinstimmung mit der entrückten und gleichzeitig lakonischen Stimmung der Bilder von Tamara Lorenz, um deren Werk es bei diesem Atelierbesuch geht.

Tamara Lorenz, 1976 in Oberhausen geboren, kam nach ihrem Fotodesign-Studium an der Fachhochschule Dortmund und einem einjährigen DAAD-Stipendium am International Center of Photography in New York nach Köln, um an der Kunsthochschule für Medien ihr Studium im Fachbereich Medienkunst abzuschließen. Ihrem Medium, der Fotografie, ist sie treu geblieben, auch wenn immer mal wieder auch Videos und möbelartige TV-Skulpturen dazu entstehen. Die Entwicklung der letzten Jahre ist in zwei schönen Kunstbüchern dokumentiert, die im Kölner Verlag „Darling Publications“ erschienen sind. Der Band „so oder so“ setzt 2004 ein mit der Serie „Das halbe Leben ansich“: Die Protagonisten dieser Fotografien sind verschiedenfarbige, luftgefüllte Mülltüten, die sich als ausgesprochen vielseitige Bildelemente erweisen und den streng durchkonzipierten Settings gleichzeitig etwas Provisorisches und Flüchtiges geben. Die Fotografie rückt den Dingen nicht auf den Leib, sie ist nicht um eine vermeintliche objektive Ansicht bemüht, sondern im Gegenteil: In Anlehnung an die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus geht es Tamara Lorenz gerade um die Herausarbeitung einer subjektiven Verschiebung der Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge. Je nach Inszenierung wirken die Müllsäcke schwer und gefüllt oder federleicht und ätherisch schön wie Seifenblasen, die jeden Moment zerplatzen werden. Die Serie schließt 2006 mit einer Aufnahme schwarzglänzender Müllsäcke, die den Bildraum völlig ausfüllen und einen massiv-bedrohlichen Eindruck erwecken.

2006 wird der Schülerin von Jürgen Klauke das Chargesheimer Stipendium für Fotografie und Video der Stadt Köln zugesprochen. Dazwischen entsteht ein eigener Werkkomplex, die „Pragmatischen Prinzipien“, die in drei Gruppen unterteilt sind, die „Simulatoren“, „Phänotypen“ und „Tipis“ (alle 2005). Was sich in der Theorie kompliziert und kopflastig anhört, bietet in der künstlerischen Übersetzung geradezu ein Paradebeispiel leichthändiger Grazie und spielerischer Selbstgenügsamkeit. Die in Schwarzweiß fotografierten zweiteiligen „Simulatoren“ zeigen gewagte, ohne Hilfsmittel auskommende Konstruktionen aus scheinbar wahllos zusammengewürfelte Holzlatten und -brettern. Die Gesetze der Schwerkraft werden ausgereizt, um dem zur Verfügung stehenden Material das Optimum an Belastbarkeit abzutrotzen. „Simulatoren“ sind diese Fotografiepaare insofern, als dass sie ein und dieselbe Situation aus verschiedenen Perspektiven zeigen und mit den vollkommen unterschiedlichen Ansichten eine Veränderung oder eine Entwicklung simulieren, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat.

Bei der Gruppe der „Phänotypen“, die mit dem aus der Genetik entlehnten Begriff den Fokus noch stärker auf das Erscheinungsbild lenkt, kommen dieselben Holzelemente auf andere Art zum Einsatz: Hier geht es nicht mehr darum, alle vorhandenen Einzelteile zu integrieren, ohne dass das Konstrukt zusammenbricht, sondern um möglichst große Diversität. Aus wenigen, denkbar simplen Elementen lassen sich – wiederum ohne zu nageln, zu schrauben oder zu kleben – verblüffend komplizierte und variationsreiche Gebilde herstellen. Auch hier entscheidet letztlich die Perspektive, der Blick des Kameraauges, welcher Eindruck überwiegt, ob die Konstruktion als weit in den Raum kragend erscheint, oder ob sie in der Art einer Zeichnung mit der Flächigkeit der Fotografie zusammenfällt. Immer wieder tauchen solche Kippmomente auf, in denen der räumliche Aufbau optisch in die Fläche klappt, so dass die tatsächlichen räumlichen Verhältnisse kaum nachvollziehbar sind. Hier beginnt sich eine eigene medialer Wirklichkeit zu etablieren, die von der zugrunde liegenden Situation losgelöst erscheint. Dieses Auseinanderfallen von realer und medialer Wirklichkeit wird in der dritten Gruppe, den „Tipis“, mit industriell gefertigten Vierkanthölzern weitergeführt, die wie ein Bündel hingeworfener Striche einer Zeichnung wirken. Ein einzelner schwarzer oder weißer Stab bildet den Mittelpunkt dieses Beziehungsgeflechts, von dem er je nach Perspektive gehalten oder auch festgehalten wird.

Während Tamara Lorenz in den „Pragmatischen Prinzipien“ gesellschaftliche Konzepte mit den Mitteln erkenntnistheoretisch basierter Wahrnehmungsphänomene untersucht, geht es in der Serie „Höhere Mächte“ (2007) um das Individuum und die Positionierung des Einzelnen. Die Bilder sind streng achsensymmetrisch aufgebaut und unterstützen schon durch das Portrait-affine Hochformat den Eindruck einer abstrahierten Figuration. Die langen Stäbe wirken wie Gliedmaßen und prall gefüllte, schwarz glänzende Kissen oder Säcke wie Köpfe oder Körper. Die „Höheren Mächte“ sind in den Bildausschnitt eingespannt und demonstrieren Autorität, aber eben auch eine nicht auflösbare Erstarrung.
Mit den „Axiomen“ verändert sich ab 2009 der räumliche Aufbau der Fotografien grundlegend: Weiße Papierbahnen begrenzen den Hintergrund, so dass die Raumecke ausgeblendet wird und sich die Raumgrenzen auflösen. Auch bei diesen Farbfotografien kommen schwarz oder weiß lackierte Holzstäbe, aber auch geometrische Flächen aus Papier oder Folie, Pappschachteln und dergleichen zum Einsatz. Die andere Neuerung ist die Einbeziehung von expressiven Schattenwirkungen, die durch mehrere Lichtquellen erzielt werden. Die Schattenzeichnungen tragen erheblich zur schwebenden Bildwirkung bei. Durch den gekrümmten Hintergrund entstehen unerwartete Abweichungen von der geraden Linie, die sich in einem sehr poetischen Gegensatz zu den sperrigen Gegenständen befinden und eine andere, zart hingehauchte Ebene hereinholen.

Seine logische Fortsetzung findet dieses Experiment in der Gruppe mit dem Titel „ProZOrd“ von 2010 – 2012: Lorenz tauscht den weißen Hintergrund gegen tiefschwarzen Molton. Einerseits schluckt der Molton das Licht, andererseits lassen sich hier die Schatten kaum mehr von den realen Dingen unterscheiden. Wo hört der Gegenstand auf, wo beginnt sein Schatten? Altbekannte, letztlich auf Platons Höhlengleichnis rekurrierende Fragen, werden auf so charmante wie ernsthafte Weise neu erfasst. Auf diesen Fotografien verwandelt sich der dreidimensionale Gegenstand in eine flächige Erscheinung, seinen Schatten, um von dort aus vor unseren Augen in die nächste, nicht mehr greif- und begreifbare Dimension überzugehen.

Auf einem Video mit dem Titel „Vom Einfluss des Operateurs“ (2010)kann man die Künstlerin dabei beobachten, wie sie mit primitiv konstruierten Hilfsmitteln die räumlichen Verhältnisse ihrer Umgebung immer wieder ins Kippen bringt und Architektur, Straßen und Landschaft in neue Beziehungen setzt. Das könnte didaktisch wirken, kommt aber mit der für Tamara Lorenz typischen Schlichtheit der künstlerischen Geste daher, die allen ihren Arbeiten Wärme und Unmittelbarkeit verleiht. Auch die neuesten Fotografien aus diesem Jahr, bisher noch ohne Titel, bewahren sich diese Balance zwischen Repräsentation und in sich ruhender Präsenz. Lorenz baut dafür eigens kulissenhafte Sets, die es ihr erlauben, innerhalb einer einzigen Aufnahme in die Tiefe gestaffelte Ebenen auf die Platte der Kamera zu bannen. Bei diesen neuen Arbeiten ist es vollends unmöglich, die Raumverhältnisse zu definieren, sich in ihnen zurechtzufinden. Es sind reale Situationen, die mit Hilfe der Lichtsetzung und der fotografischen Mittel in eine undurchschaubare und geheimnisvolle mediale Realität versetzt werden. Nichts wurde im Nachhinein retuschiert oder digital bearbeitet. Tamara Lorenz arbeitet analog. Offenbar hält die Wirklichkeit für sie genügend Wunder bereit. Und auch der Atelierbesucher nimmt etwas vom Zauber dieses eigensinnigen und komplexen Blicks auf die Dinge mit sich nach Hause.

Beteiligung am ikono on air art festival, 6. – 29. September 2013
Einzelausstellung im Kjubh, Köln, November 2013


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