Mehr Luft!

Mehr Luft!


Sabine Elsa Müller über den in Köln lebenden Künstler Thomas Böing

Da ist er wieder, dieser seltene Gast, der sich irgendwie rar macht, aber wenn er auftaucht, eine schwer erklärliche Faszination ausübt. Sein durchlöchertes Haus in der Artothek (2004) ist nach all den Jahren immer noch präsent, oder auch die „Polonaise“ von Schweinchen, Maus, Bär und Hase aus fiesem Schaumstoff in der Galerie Kudlek van der Grinten (2008). Diesen Monat eröffnet er bei Kudlek seine dritte Einzelausstellung. Wer ist er eigentlich, dieser große Unbekannte?

Thomas Böing zählt zu den interessantesten Künstlern, die hier in Köln leben und arbeiten. Geboren wurde er 1963 in Rhede im Münsterland. Nach einem kurzen Versuch eines Architekturstudiums wechselte er an die HfBK Hamburg zu Bernhard Johannes Blume und dann nach Düsseldorf an die Kunstakademie. Dort wurde er Meisterschüler von A.R.Penck. Eine eigenwillige Kombination, zumal für einen Bildhauer. Denn dass es sich bei Thomas Böing um einen Bildhauer handelt, schien eigentlich klar. Aber was ist schon klar. Jedenfalls geht es um Körper, die in einer zu engen Haut stecken, um Räume, die sich ausdehnen, und Raumgrenzen, die nicht einfach akzeptiert werden können: „Die Wohnung erschien mir eng und abgeschlossen. Der Abfluss im Badezimmer brachte mich auf die Idee, die Wohnung durchlässiger zu gestalten. So begann ich Stück für Stück der Einrichtung zu löchern. Wenn ich jetzt nach Hause komme, habe ich immer etwas zu tun und die Wohnung ist irgendwie luftiger.“ So steht es geschrieben im Katalog „Gruppenbild“, von 2006. Dort findet sich auch der durchlöcherte, zusammenfaltbare Pavillon im Kreisverkehr, ein praktischer und zeitgemäßer Nachfahre des starren Holzhäuschens aus der Artothek. Das Gelöcherte wirft schöne Schatten. Es ist jetzt kein Schutz mehr gegen Regen und Sonne, sondern eine Form gewordene Paradoxie zur erbaulichen Betrachtung.

Auch auf den frühen Polaroids (seit 2001) sind viele durchlöcherte Dinge zu sehen, Plastikschüsseln, übereinandergestapelt, ein übergestülpter Gummihandschuh, eine Milchtüte. Und hier fängt Böing an, die abfotografierten Löcher mit dem Cutter aus dem Foto selbst herauszuschneiden. Der Gegenstand wirft im Bild seinen löchrigen Schatten auf Boden, Wand oder eine Ablage, gleichzeitig gibt es eine Schattenwirkung durch die ausgeschnittenen Löcher auf die Wand hinter dem Polaroid. Bildraum und realer Raum verschränken sich auf eine sehr irritierende Weise, die in der Betrachtung kaum aufzulösen ist. In unterschiedlichen Serien gewinnt Böing der Erweiterung des fotografischen Illusionsraums in die Sphäre des Betrachters ganz unterschiedliche Qualitäten ab. Obwohl das Prinzip, aus einer Fotografie gewisse Strukturen mittels Herausschneidens zu entfernen, denkbar einfach ist, sind die Ergebnisse verblüffend komplex. In der Gruppe „Museum König“ (2003) entfernt er sämtliche Tiere aus den Dioramen und Schaukästen des Naturkundemuseums. Natürlich kann man die Tiere an den Schnitt-Konturen ganz gut erkennen. So sind die ausgestopften Tiere einerseits verschwunden, andererseits in den Umrissen noch anwesend, als ob sie quasi durch ihre eigenen Löcher aus ihren Käfigen entschlüpft seien. Dank der Schattenwirkung bekommen die leeren Konturen eine plastische Räumlichkeit, so dass man im ersten Moment meint, eine gezeichnete oder irgendwie auf andere Art hergestellte, hochästhetische Darstellung von Tieren zu sehen. Der weiche Schatten scheint ihnen Leben einzuhauchen. Sie wirken weit weniger blutleer als die präparierten Exemplare, deren Schattenbilder sie ja tatsächlich sind.

Bei seiner Übersiedlung in ein Atelier auf dem Butzweiler Hof entdeckte Thomas Böing ein verlassenes Offizierskasino. Die Menschen sind aus diesen Räumen schon verschwunden. Was bleibt ist die Architektur und verstreute Zeugnisse einer beklemmenden Form von Behaglichkeit. Böing lüftet die Räume und entlässt den Mief aus offenen Fenstern und Türen. Auch hier tun die Schatten ein Übriges, um die Illusion herzustellen, Licht und Luft strömten aus den ausgeschnittenen Fenstern und Türen in die zweidimensionalen Raumansichten. In einer anderen Serie nimmt sich Böing Museumsräume vor. Aber natürlich: statt der Bilder gähnt die unendliche Leere säuberlicher Cut-Outs, oder sind es besonders subtile Bilder, die hier an den Wänden hängen? Yasmina Rezas Theaterstück „Kunst“ fällt einem dazu ein, die weit verbreitete, immer wieder aufflackernde Häme über „leere“ Bilder. Doch indem Thomas Böing die Museen entleert, lässt er etwas Neues entstehen, ein neues Artefakt, an dem sich die Wahrnehmung ebenso wie das reflektierende Nachdenken über das Verhältnis zwischen Fläche und Raum, Illusion und Wirklichkeit geradezu festsaugt.

In den neuen Cut Outs, die auch in der aktuellen Ausstellung zu sehen sein werden, skelettiert Thomas Böing Innenräume bis auf die raumschaffenden Elemente wie Fußleisten, Tür- und Fensterrahmen. Obwohl die perspektivischen Linien ja da sind, versagt hier bei der Betrachtung die Fähigkeit, Bilder räumlich zu sehen. Die Vorstellungskraft reicht einfach nicht aus, das Fehlende im Kopf zu ergänzen. Die Wirklichkeit auf dem millimeterdünnen Fotopapier erweist sich doch als sehr dünn gegenüber dem Raum, der sich dahinter auftut. Sie wirkt wie eine Kulisse. Das verbindet die Fotoarbeiten mit den kleinen Raummodellen aus Rigips. Das Protomodell war der „Korridor“, den Böing 2011 bei Kudlek van der Grinten zeigte: Ein drei Meter langer, aus Rigips gebauter Raum, dessen Seitenfläche sich durch die Breite der Aluminiumschiene ergab, mit der die Miniatur-Rigipswände wie bei einer richtigen Wand verschraubt wurden. An den beiden schmalen Enden befinden sich jeweils kleine Türen, wie sie für Puppenstuben angeboten werden. Man konnte, auf dem Boden kniend, durch sie hinein- und hindurchschauen. Bei den neuen Rigips-Räumen begnügte sich Böing nicht mit der Simulation von Architektur, sondern er holt mit Hilfe eingebauter Projektionen eine weitere räumliche Ebene herein. Schauen wir in die Gipsmodelle, sehen wir plötzlich Rolltreppen fahren, Menschen durchlaufen und andere Szenen aus der Wirklichkeit des städtischen Außenraums.

Und was ist mit der „Polonaise“, dieser so unglaublich grotesken, komischen, niedlichen und gleichzeitig verstörenden Parade lebendig gewordener Kuscheltiere, denen der kuschelige Bezugsstoff irgendwie abhanden gekommen ist? Thomas Böing möchte sich nicht auf eine „Produktlinie“ reduzieren lassen und beschäftigt sich erst mal mit anderen Dingen. Aber er hat die Sache nicht aus den Augen verloren. Vielmehr galt es das Problem zu lösen, wie der Schaumstoff, dessen Ästhetik die morbide Ausstrahlung der Arbeiten bestimmt, auf Dauer haltbar zu machen sei. Vielleicht hat er auch wieder eine ganz andere Idee, wie z.B., blaue Müllsäcke mit Luft zu füllen. Als ihm auffiel, dass es Müllsäcke in unterschiedlichen Blautönen gibt, hat er drei verschiedenfarbige Sorten gekauft und die Farben durch Ineinanderstülpen mehrerer Säcke gemischt. Es kamen 50 unterschiedliche Farbzusammenstellungen zustande, die sich luftgefüllt zu einem schönen Farbberg auftürmen lassen. Die Farbe Blau ist überhaupt wichtig für Böing: Keine andere Farbe atmet soviel Luft, steht für Weite, Ferne und vielleicht auch Freiheit. Deshalb zeichnet er auch Bilder aus Reiseprospekten von entspannten Menschen in dieser blauen Farbe ab, oder er „befüllt“ einen gewöhnlichen Karton mit einem dichten blauen Farbauftrag, so dass man beim Hineinsehen in eine blaue Stimmung eintauchen kann. Intensiver dürfte die „Blaue Stunde“ nur noch zu erleben sein, wenn man in die Säule aus blauen Kinder-Pools klettert: Die Böden der aufeinandergestapelten Pools sind ausgeschnitten, so dass man zwischen den Ringen vorsichtig hineinsteigen und eine blaue Geborgenheit genießen kann.

Es bleibt also völlig offen, wie es weiter geht mit den Visionen und Simulationen dieses De-Konstrukteurs der Wirklichkeit, der ohne großes Gerät oder gigantischen Materialaufwand unsere Aufmerksamkeit so nachhaltig herausfordert.

Ausstellung:
„Realities of Abstract Space“ Galerie Martin Kudlek, Schaafenstr. 25, 50676 Köln
Eröffnung 21. Juni, 19-22 Uhr; bis 31. Juli 2013


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