Sigmar Polke


Sabine Elsa Müller über „Alibis: Sigmar Polke. Retrospektive“, im Museum Ludwig, Köln, bis 5. Juli 2015

Sigmar Polke, der 2010 im Alter von 69 Jahren in Köln starb, verbrachte fast sein halbes Leben in dieser Stadt. Die meisten der über 200 Exponate der „Alibis“-Ausstellung sind hier entstanden. Nur ausstellen wollte er hier nicht. Selbst als 2008 das MoMA seine Einwilligung für die schließlich 2014 in New York gestartete Retrospektive einholte, soll er auf die Frage, ob er sich eine zweite Station in Köln vorstellen könne, mit einem kategorischen „Never ever“ abgewunken haben.

Nun haben also andere für ihn entschieden. Und falls es je an Argumenten mangelte, warum diese Ausstellung gerade für Köln wichtig ist – die Ausstellung liefert sie reichlich. Hatten wir denn tatsächlich geglaubt, „unseren“ Polke zu kennen? Was hier von der Kuratorin Barbara Engelbach in schöner Chronologie, dabei höchst spannungsreich ausgebreitet wird, sprengt bei weitem das Fassungsvermögen eines einzigen Besuchs. So viel Polke war noch nie, weder im MoMA noch in der Londoner Tate Modern, deren „Alibis“-Ausgaben auch schon von Publikum und Presse hochgelobt wurden. Angesichts dieses Facettenreichtums an Stilen, Medien und Materialien einer sich über knapp 50 Jahre erstreckenden Weltdurchdringung erweisen sich die altbekannten Etikettierungen als ziemlich altbacken. Polke, der Alchimist; Polke, der Verweigerer; Polke, der ewige Provokateur – alles Klischees, die viel zu kurz greifen, weil übersehen wurde, dass sich dahinter ein unglaublich ernsthafter, vielleicht besessener Arbeiter verbirgt. Alibis eben.

Von Anfang an war es das Ziel dieser Retrospektive, erstmals all die verschiedenen Polke-Aktivitäten zusammenbringen: Also Malerei, Fotografie, Zeichnung, Film, Druckgrafik, Collage, Objekt, Glaskunst usw. usf. nicht nur als unhierarchisch nebeneinander existierende, sondern wie es seiner Arbeits- und Denkweise entsprach, sie als sich gegenseitig durchdringende und befruchtende Ausdrucksmittel erlebbar zu machen. Polke hat Konventionen und Standards mit einer Lässigkeit ausgehebelt, wie sie wohl nur unter dem Schock der jüngsten Geschichte möglich war. Mitten im Krieg, 1941 in Schlesien geboren und nach Flucht und Vertreibung schließlich 1953 in Düsseldorf gelandet, schien es für ihn keine Tabus zu geben. Mit der Ironie als Waffe distanzierte er sich von ideologischer Täuschung und krempelte die Kunstcodes ordentlich um. Was findet sich da nicht alles – das Kartoffelhaus, die Zollstockpalme, die Interferenzbilder – das es in puncto innovativer Relevanz noch heute leicht mit der Gegenwartskunst aufnehmen könnte.

Die Schau setzt 1963 ein mit einem begeisternden Aufgebot kleinformatiger Bilder des damals 22jährigen. Sujets wie „Der Wurstesser“, „Socken“ oder „Hemden in allen Farben“ wirken zunächst wie eine verspießerte deutsche Version amerikanischer Pop Art. Statt Blow ups und schreiender Farben akkurat gefaltete, sehr flächig gemalte Hemden in feinen Weißabtönungen. Immer geht es Polke eben auch um Malerei – in den Farbabstufungen der Hemden schwingen die Untersuchungen abstrakter analytischer Malerei ebenso mit wie in dem kleinen weißen Gemälde in Lack auf Leinwand, das er mit einer schwarzen Mittellinie und zwei winzigen, aufgemalten Schlüssellöchern rechts und links davon versieht und kurzerhand zum „Schrank“ umdefiniert. Polke vermeidet die affirmative Ästhetik amerikanischer Prägung, ironisiert statt dessen das typisch deutsche Konsumverhalten mit dem Stilmittel der Trivialisierung nicht nur über die Motive, sondern auch über die vermeintlich naive Handschrift und die scheinbar willkürliche Materialwahl. Erste Punktebilder entstehen, bedruckte Stoffe ersetzen die Leinwand, der Kugelschreiber wird zum Zeichnungsutensil erhoben.

Hinter der vordergründigen Trivialität verbirgt sich das eigentliche Grundmotiv dieses Werks: das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft. Polke schien Adornos Diktum der Unmöglichkeit, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“, bzw. ein Bild zu malen, nie vergessen zu haben. Bis in die achtziger Jahre hinein fließt die Reflexion des Zeitgeschehens der alten Bundesrepublik und ihre Verdrängung und Verleugnung des Nationalsozialismus´ mehr oder weniger direkt in seine Bildfindungen ein. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten seines Schaffens wird der soziale und politische Aspekt mehr und mehr von den parallel laufenden Untersuchungen malerischer und wahrnehmungsphilosophischer Phänomene abgelöst. Diese beiden Stränge herausgearbeitet zu haben ist das besondere Verdienst der Kölner Ausstellung, nachdem der Schwerpunkt in New York auf das Politische und in London auf die bisher noch kaum hinreichend analysierte große Bedeutung Polkes als Maler gelegt worden war.

Polkes Spott wirkt nie aufgesetzt, aber abgründig, denn seine amüsanten Eulenspiegeleien haben einen wahren, todernsten Kern. So ist auch seine Auseinandersetzung mit der Abstraktion von deren gesellschaftlicher Instrumentalisierung und seiner Kritik daran nicht zu trennen. Auf die reinigenden und läuternden Kräfte, die ihr im Nachkriegsdeutschland nachgesagt wurden, reagiert er mit eingeschmuggelten Hakenkreuzen, die er unter die abstrakten Formen mischt wie bei dem bekannten „Moderne Kunst“ von 1968, oder er nimmt den reinigenden Effekt beim Wort wie in „Seife“, einer Zeichnung von 1963 mit Kugelschreiber und Gouache auf Papier, bei der das Seifenstück in eine ästhetisch ansprechende Komposition eingepasst wird.

So sehr er die Wahrnehmung als trügerischen, von zahlreichen Faktoren abhängigen Sinneseindruck vorführt, so fasziniert scheint er gleichzeitig von der suggestiven Anziehungskraft und sinnlichen Ausstrahlung der Bilder. Seine Fähigkeit, die retinale Attraktivität seiner Arbeiten immer weiter auszureizen, macht den Ausstellungsrundgang zu einem Sehvergnügen höchsten Grades. Verunklärungen, Eintrübungen und Überlagerungen – die Mittel der Verdrängung – werden von Polke wie von keinem zweiten zur Intensivierung des Sehens umgemünzt. Den Anfang machen die flirrenden Rasterbilder, die Mitte der sechziger Jahre einsetzen und zehn Jahre später in den fünf Gouachen auf Papier aus dem Zyklus „Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen“ ihren Höhepunkt finden. „Can you always believe your eyes?“ (1976) lautet der programmatische Titel einer dieser Arbeiten, die mit ihren Dimensionen von etwa zwei auf drei Metern inzwischen wandfüllende Ausmaße annehmen. Auch in ihrer Herstellung als Gemeinschaftswerk aus sich überlagernden, mit Sprayfarbe und Schablonen aufgebauten Schichten erinnern sie an Graffiti oder Wandbilder im öffentlichen Raum.

1972 war Polke zusammen mit Freunden auf den legendären Gaspelshof in Willich gezogen, der sich zum beliebten Treffpunkt der rheinischen und internationalen Kunstszene entwickelte. Es ist ein besonders gelungener Coup der Kuratorin, in der riesigen zentralen Halle aus Fotografien, Bildern, Collagen, Zeichnungen und Gemeinschaftsarbeiten unterschiedlichster Formate eine hippieske Gesamtinstallation einzurichten, deren Mittelpunkt drei Filmprojektionen bilden. Somit wird gerade diese Periode, die bislang als wenig produktiv galt, zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten Ausstellung, die wie ein Scharnier das Frühwerk mit dem Werk der 80er Jahre verbindet. Einflüsse, die sich aus den unterschiedlichsten Kontexten zusammensetzen wie den ausgedehnten Reisen in exotische Länder, dem Experimentieren mit berauschenden Substanzen, der Teilnahme an politischen Aktionen oder der Erprobung neuer Lebens- und Arbeitsformen fließen wie in einem Melting Pot zusammen und führen zu neuen Ausdrucksformen insbesondere in den Bereichen Fotografie, Druckgrafik und Film.

Zwar handelt es sich bei den drei Filmen „How Long We Are Hesst/Looser“ (um 1973-76), „Quetta´s blauer dunstiger Himmel“ (um 1974-76) und „Auf der Suche nach Bohr-mann“ (um 1975/76) nicht um seine ersten Filme. Schon 1969 entstanden „Das Berliner Fenster – Galerie Block“ als knapp vierminütiges Schwarzweißvideo sowie in Zusammenarbeit mit Christof Kohlhöfer der verspielt-surreale 16-mm-Film „Der ganze Körper fühlt sich leicht und möchte fliegen…“, der teils in Schwarzweiß, teils in Farbe gedreht wurde. Es lohnt, sich die Zeit für die vielen in die Ausstellung integrierten Filme zu nehmen, auch wenn sie mit ihren Laufzeiten zwischen 30 und 60 Minuten dem Besucher einiges abverlangen.

Typisch für Polkes Montagetechnik der 70er-Jahre ist die Überlagerung verschiedener Wirklichkeitsebenen, die anstatt zur Einheit zu verschmelzen, Konflikte und Gegensätze desto deutlicher hervortreten lassen. Zwischen den Aufnahmen von Straßenszenen in Afghanistan, Pakistan oder Brasilien geraten immer wieder die Freunde und Weggefährten ins Blickfeld. Sie wirken in der fremden Umgebung ebenso fehl am Platz wie die eingeblendeten Fernsehbilder aus der Tagesschau und politischen Diskussionsrunden in der von Albereien und Travestien geprägten Atmosphäre auf dem Gaspelshof. Unter dem Sound der Gitarrentrommelfeuer von Weather Report und Grateful Dead lässt Polke Welten aufeinander prallen und transportiert damit sehr direkt das Lebensgefühl dieser Zeit als Gefühl der Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen und Ideologien.

In den 80er Jahren kehrt die Malerei als klassisches Tableau in die Kunst zurück – nicht nur bei Sigmar Polke. Aber auch beim Thema Tafelbild versteht er es, Sehgewohnheiten zu unterwandern. Neben der Verwendung von bedruckten oder transparenten Stoffen, die das eigentlich unsichtbare Innenleben bzw. die Rückseite des Bildes zum Mitspieler erheben, experimentiert er mit Meteorgranulat, Quecksilber oder Pigmenten, die ihre Farbe je nach Luftfeuchtigkeit verändern. Zwischen 1984 und 1988 entsteht mit dem 7teiligen Hochsitz-Zyklus eine Art bildnerisches Manifest seiner Auffassung von der unlösbaren Symbiose zwischen Malerei und Motiv, Form und Inhalt. Das Motiv – eine per Schablone aufgebrachte, immer identische Form, die auf einer Fotografie eines Jäger-Hochsitzes aus dem Kölner Umland basiert – wird mit immer neuen Techniken, Malgründen und Malmitteln variiert und nahezu bis zur Auslöschung malträtiert. Aber hinter den Übermalungen tritt es als Negativform gerade mit besonderer Deutlichkeit wieder hervor. Die monumentalen Tafeln mit Maßen um 3 x 2,25 Metern und wechselnden Titeln wie „Hochsitz“, „Hochstand“ oder „Wachturm“ lassen sich nicht komplett erfassen und scheinen immer nur so viel preiszugeben wie sie an anderer Stelle dem Blick verbergen.

Mit seinem Biennale-Beitrag, für den er mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, setzte Polke 1986 neue Maßstäbe. Seither sind die sechs Kunststoffsiegel-Bilder permanent im Museum Abteiberg in Mönchengladbach zu sehen, aber nur während der Alibis-Ausstellung wieder in Kombination mit einem ca. 4,5 Milliarden Jahre alten Eisennickelmeteoriten und einem ca. 290 Millionen Jahre alten Bergkristall, wie es die Biennale-Installation vorsah, zu der auch figürliche Bilder und Wandmalerei gehörten. In der unbekümmerten Vermischung von Abstraktion und Figuration war Polke seiner Zeit ebenso voraus wie im Umgang mit Naturmaterialien, wie auch die Gestaltung der Fenster im Züricher Grossmünster mit Achatscheiben eindrucksvoll demonstriert (2006 – 2009).

Größte Aktualität lässt sich wohl seinen Erkundungen einer rein medialen Realität beimessen. Ob über Verzerrungen am Kopierer, Experimenten mit Entwicklerflüssigkeiten, pulvrigen Pigmenten oder Schüttungen – Polke hinterließ eine unermessliche Varietät von Bildwerken frei von jedem außerbildlichen Bezugspunkt. Das Bild erschafft sich aus eigener Energie – das ist jedenfalls der Eindruck, den der zwischen 1986 – 1992 gedrehte Film „Farbe“ erweckt. Hauptakteure des Films sind Pigmente, die auf eine flach auf einem Tisch liegende Leinwand gestreut bzw. mit vollen Händen geworfen werden, und das flüssig auf der Leinwandoberfläche stehende Bindemittels. Die Verbindung von beidem wird als autonomer organischer Prozess suggeriert, frei von der Einwirkung des Malers. Polke taucht nur einmal kurz auf: Man sieht ihn weniger malen als sehr vorsichtig mit einem Pinsel am Bildrand herumtupfen. Das Rot seiner Kleidung scheint identisch mit dem Rot des Pigments, das die Leinwand bedeckt und dadurch eine Art Symbiose zwischen Maler und Malerei herstellt. Die dramatische Beleuchtung mit starken Schlagschatten legt wiederum den Vergleich der von Pigmentbergen und –tälern bedeckten Leinwand mit einer Landschaft nahe, auf die sich das Kameraauge niedersenkt wie zu einer abenteuerlichen Expedition.

Polkes Kosmos auch nur annähernd auszuleuchten, scheint unmöglich. Selbst die stringente Auswahl der Alibis-Ausstellung sprengt jedes mentale Fassungsvermögen. Dennoch stellt sich kein Gefühl der Überforderung ein. Die Ausstellung lässt dem Besucher Luft für den eigenen Zugang. Sehr zu empfehlen ist auch der Katalog, der dem Phänomen Polke mit einer Fülle verschiedenster Beiträge unterschiedlicher Autoren beizukommen sucht.


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