Marcel Odenbach, Papierarbeiten


Was für ein Bild! Aus dem All-Over der mäandernden Muster und Arabesken schält sich die Kontur eines einladenden Liegemöbels heraus. Breit und behäbig steht es da, unverrückbar und überbordend dekoriert als Oase für süße Träume, wie es einem bürgerlichen Geschmack vor etwa hundert Jahren entsprochen haben mochte. Schimmernde Orientteppiche, in allen Farben schillernde Kissen und Decken aus Chenille – alles hier fließt weich ineinander und würde wohl gänzlich in einem rot-grün-grauen Farbenstrudel versinken, wäre da nicht die ausgefeilte Bildtektonik aus senkrechten, waagerechten und diagonalen Linien, die dem Ganzen Halt verleiht. Überhaupt bläht sich diese Couch mit Hilfe der Kissen und Decken und des nahe an sie herangerückten Sessels bei genauerer Betrachtung zu einem einzigen, massigen Körper, der von der rigoros durchgezogenen Horizontale am oberen Bildrand aus schräg in den Raum ragt und den unteren Bildrand ziemlich genau in der Mitte entzweischneidet. Hier unten befindet sich der Betrachterstandpunkt. Der majestätische Eindruck ist also nur zum Teil der vorgeführten Pracht geschuldet – zumindest einen ebensolchen Anteil daran haben der gewählte Bildausschnitt und die Perspektive. Das Bild lässt den Betrachter wieder Kind werden. Ein Kind, dessen Blick sich von einem faszinierenden Anblick überwältigen, hypnotisieren und schließlich verschlingen lässt.

In der Tat, wer sich in diese weiche Bodenlosigkeit fallen lässt, wird nicht so schnell wieder herausfinden. Denn je genauer man schaut, desto mehr lösen sich die Zusammenhänge auf. Aus der Tiefe tauchen mit einem Mal neue und ganz andere Bilder an die Oberfläche. Bilder aus der Vergangenheit, bekannte Bilder, vertraute Bilder, verheerende Bilder. Bilder von Menschen. Von Opfern und Tätern. Kriegsgräuel, Soldaten in Reih und Glied, Menschen in jüdischer Tracht, Massenszenen, Szenen des Holocaust, Männer der Macht, Mörder, Geistesgrößen, anonyme Einzelschicksale. Der schöne Oberflächenglanz löst sich ab wie Schminke, unter der das rohe Fleisch der Wirklichkeit zum Vorschein kommt. Marcel Odenbachs mustergültig alle Register eines meisterhaften Illusionismus ziehendes Werk ist eine Falle. Die „Pinselstriche“ der verschwenderischen Farbpalette setzen sich aus winzigen, fotokopierten und eingefärbten Bildfragmenten zusammen. Diese Entdeckung, dass es sich bei der vermeintlich kunstvollen Malerei um eine täuschend echt wirkende, ebenso kunstvolle Imitation aus schlichtem Papier handelt, ist fast so schockierend wie der Inhalt selbst.

Erst wenn man wirklich ganz genau hinsieht, aus nächster Nähe, werden die schemenhaften Gestalten aus den Abbildungen der Zeitungen, Zeitschriften und Bücher sichtbar. Wie brüchige Krusten brechen die Oberflächen auf und entlassen eine Armee von Geisterwesen aus den Untiefen der Geschichte. Diese Gestalten scheinen ein Eigenleben zu führen. Es sind Untote, die sich nicht in die Vergangenheit und das Vergessen verbannen lassen. Auch wenn man sie nicht wahrnimmt, sind sie doch immer da und geben einen konstanten und schuldhaft verstrickten Hintergrund für die wechselhaftesten Phänomene des Tagesgeschehens. Sie wirken und weben im Untergrund, wie das Unbewusste, wie die Träume selbst. Deshalb kann es auf dieser Couch kaum einen erholsamen und erquickenden Schlaf geben. Wer sich auf ihr niederlässt, wird in einen Fiebertraum verfallen, verfolgt von Myriaden von Gespenstern. Ein kurzes „Probeliegen“ – so der Titel der 2010 entstandenen Arbeit – kann unter Umständen einen lebenslangen Prozess in Gang setzen: die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, der deutschen wie der jüdischen. Es ist Freuds Couch, die hier als Personifizierung des Unbewussten fungiert. Sie befindet sich im Freud Museum in London. Und genau an diesem Ort wurde das 150 x 230 cm große Bild 2011 erstmals ausgestellt.

Marcel Odenbach treibt die für sein gesamtes Werk – seine Videoarbeiten wie die im Bonner Kunstmuseum so umfassend wie nie zuvor vorgestellten Papierarbeiten – symptomatische Verschränkung vieler Bewusstseinsebenen in „Probeliegen“ auf die Spitze. Nicht nur wird das zutiefst Persönliche, das Unterbewusste in Beziehung mit dem historischen Gedächtnis gesetzt, das Subjektive mit den objektiven Tatsachen und der naturwissenschaftliche Fortschritt mit dem Irrsinn, dem psychologisch Unfassbaren, Irrationalen. Er verortet die eigene künstlerische Praxis in den Arbeitsbereich des großen Psychoanalytikers, auf dessen Couch er sich „probeweise“ begibt. So gesehen entpuppt sich Odenbachs Werk als kongeniale Umsetzung psychoanalytischer Mittel in Kunst. Er seziert die Verhältnisse mit dem Collagemesser zur schonungslosen tiefenwirksamen Analyse. Das Bild einer intakten bürgerlichen Kultur wird nur heraufbeschworen, um den inneren Verfall desto drastischer vor Augen zu führen. Aber auch die abendländische Malerei, deren Spuren in „Probeliegen“ deutlich zu verfolgen sind von den Alten Meistern mit ihrer vor Kostbarkeit schimmernden Gegenständlichkeit eines Jan Vermeer über Henri Matisse´ raumauflösende Musterassemblagen bis hin zu Jackson Pollocks Delirien, wird letztlich von den Collagen der Medienbilder überformt, perforiert, zersetzt.

„Probeliegen“ beherrscht mit einer Reihe weiterer herausragender, großformatiger Werke das Zentrum des Wechselausstellungsbereichs. Dass die meisten von ihnen zum ersten Mal in Deutschland gezeigt werden, ist schlicht unbegreiflich. Offenbar ist die Rezeption der Papierarbeiten andernorts weit fortgeschrittener als im eigenen Land, was durchaus an den Themen liegen könnte. Immer wieder lockt Odenbach mit einer vorgeblich schwelgerischen Malerei in die Abgründe deutscher Geschichte. Aber die Idyllik der Motive kann aus deutscher Sicht keinen Moment verfangen. Bilder wie „Familienfeier“ (2011/12) oder „Die gute Stube“ (2011) mit ihren heroischen Alpenpanoramen wecken sogleich tiefstes Misstrauen, und tatsächlich stammen die Vorlagen aus Abbildungen von Hitlers Berghof am Obersalzberg. Aber wenn Odenbach in der Vergangenheit gräbt, hat er immer die Gegenwart im Blick. Einen weiteren Schwerpunkt der Ausstellung bestimmen seine langjährigen Aufenthalte und Erfahrungen in Afrika. Wer vor zwei Jahren die Videoinstallation „In stillen Teichen lauern Krokodile“ (2002-04) im Kolumba in Köln gesehen hat, weiß, dass er auch zu diesem uns immer noch sehr fremden Erdteil eine Verbindung von großer emotionaler Intensität herstellen kann. Sein Portrait des kongolesischen Potentaten Kabila ruft eine ganze Ahnengalerie furchteinflößender Herrscherportraits vor dem inneren Auge hervor, während im lapidaren Titel „Sitzfleisch“ (2012) ein unterschwelliger Beigeschmack von Kannibalismus und Menschenopfer mitschwingt.

Es ist ein großes Verdienst der Ausstellung, dass sie die Entwicklung der Papierarbeiten im Werk Marcel Odenbachs bis in die siebziger Jahre zurückverfolgt und diesen Werkkomplex damit als gleichberechtigt neben der Videoarbeit adelt. Von hier aus lassen sich auch sehr gut die Parallelen erkennen zwischen der Arbeit mit Papier und mit Video, wofür der Name Marcel Odenbach bisher stand und zu dessen wichtigsten Vertretern er fraglos zählt. In beiden Bereichen benutzt er jeweils gefundenes Bildmaterial und setzt die Schrift gleichberechtigt mit dem Bild ein. Denn häufig handelt es sich bei den collagierten Bildelementen um Auszüge aus Gedichten, Gesetzestexten, Briefen und anderem schriftlichem Dokumentationsmaterial. So oder so handelt es sich um eine Art „Recyclingverfahren“, das der Bilderwelt keine neuen Bilder zuführt, sondern die vorhandenen umformt und damit neu interpretiert. Die Arbeit mit Papier und mit Video ergänzt und beeinflusst sich gegenseitig. Kaum zu glauben, dass Marcel Odenbach 60 Jahre alt werden musste, bis ihm ein deutsches Museum endlich diesen lang verdienten Auftritt ermöglicht. Kürzlich beklagte sich Odenbach, der schon seit vielen Jahren als Professor in der Ausbildung tätig ist, in einem Interview, dass viele junge Künstler die notwendige „kreative Besessenheit“ vermissen lassen. Angesichts dieser Ausstellung versteht man, wovon er spricht.

Sabine Elsa Müller

Marcel Odenbach, Papierarbeiten 1975 – 2013 im Kunstmuseum Bonn, bis 5.1.2014. Zusätzlich zum bereits erhältlichen, umfangreichen Ausstellungskatalog ist ein Werkverzeichnis der Papierarbeiten in Bearbeitung


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