Ignacio Uriarte


Julius Tambornino über „Bürozeit“ in der Villa Zanders, Bergisch Gladbach, bis 7. Juni 2015

Bei der Presseführung spielt der Kosmos dieser Ausstellung einen wunderbaren Streich: Während sich unsere Sinne drinnen im wahrsten und besten Sinne abarbeiten an einer feingeistigen Sinfonie über Ordnung und Monotonie im Alltag, schiebt sich draußen der Mond vor die Sonne und dokumentiert ganz analog dazu die Regeln des weit übergreifenderen Systems des Firmaments.

Als Vergleichsgröße liefert das Naturschauspiel tatsächlich einen hilfreichen Hinweis: Denn während das Periodische im Kontext der Astrophysik die einzig sichtbare Komponente einer Konstellation von Notwendigkeiten darstellt, geht es bei Ignacio Uriarte um etwas, dass dieser Auffassung von Funktionalität streng gegenübersteht. Der Künstler bedient sich zwar am Material der Gleichförmigkeiten – die Din-Normen, die Typografien, die Zeiteinteilung – überträgt sie aber in eine ihr extrem feindlich gesinnte Umgebung, schließlich ist die Abstinenz direkter Zweckmäßigkeit der vielleicht allerkleinste gemeinsame Nenner zwischen zahlreichen zeitgenössischen Kunstbegriffen.

Der in Berlin lebende Uriarte kennt das Büro und seine spezifische Quantifizierung von Zeit, die der Ausstellung ihren Namen gab, aus persönlicher Erfahrung. Fast zehn Jahre arbeitete er in diesem Umfeld bevor er sich voll und ganz auf die gegenüberliegende Seite schlug. Viele seiner Ideen entstanden dabei nach eigener Aussage noch „in situ“ und dennoch ist es kein kategorisch feindseliger Blick, den Uriarte mit „Bürozeit“ auf die seltsamen Ausstöße der gesellschaftlichen Parallelwelt Büro wirft.

Er selbst beschreibt den Mechanismus hinter seiner Arbeit unter anderem als impulsive Trotzreaktion – wenn Eltern Kindern vorschreiben, sich gerade zu halten, dann wird der Admiralsgang zum Akt der Revolte. Nach diesem Schema scheint sich eine stabile Faszination für die Ästhetik und Prinzipien des Bürokratischen in Uriarte festgesetzt zu haben, die ihn aber dazu antreibt, sich in seinem Schaffen den Normen nicht mehr freiwillig zu übergeben, sondern sie aktiv an eine Schwelle zu bringen, von der aus sie außer Rand und Band geraten, um in ihr eigenes Gegenteil zu kippen: ins Poetische.

Das ehrwürdige, und mitunter verspielte Interieur der Villa Zanders mit dem riesigen Kronleuchter im zentralen Raum im Treppenhaus bietet eine wunderbare Bühne, vor dessen Folie die formale Klarheit in Uriartes Werken noch einmal heller strahlen kann. In enger Zusammenarbeit mit dem Künstler hat man für die Ausstellung, mit der das Museum seinen Schwerpunkt der Papierarbeiten weiter ausbaut, außerdem die unterschiedlichen Räume in eine schlüssige Dramaturgie gesetzt, die dem großen Ordnungsmodell, unter dessen Flagge das Gezeigte steht, alle Ehre macht: Jeder Raum widmet sich einem Kernthema, einer Farbe, oder einer bestimmten Materialität.

Am Anfang steht dabei eine unermüdlichen Zeichenserie von Plus- und Minuszeichen, die der Künstler in verschiedenen Abständen mit einer elektronischen Schreibmaschine anfertigte. Vieles, was für die gesamte Schau wichtig ist, bündelt sich in diesen minimalistischen Arbeiten und unterstützt das Verständnis beim anschließenden Rundgang: Uriartes Arbeit operiert häufig mit der spezifischen Dichte eines Schreibmaschinenzeichens, variiert diese und setzt sie in den größeren Zusammenhang des Seriellen, in dem die eigene Dichte des Zeichens in einer übergeordneten Dichte der Ansammlung aufgeht. Plus und Minus stehen repräsentativ für die Herstellung eines artifiziellen Gleichgewichts, das auch in den folgenden Räumen durchweg eine Rolle spielt. Dies ganz besonders bei zwei wunderbaren, minimalistischen Arbeiten aus gefalteten DIN A 4 Blättern die sich im großen Raum, dessen symmetrische Anlage um die Achse der Treppe perfekt mit der Kunst korrespondiert, gegenüberstehen. Wie viele Blätter sich an dieser Wand befinden? Es sind 21 – analog zu ihrer eigenen Breite in Zentimetern. Diese Überschneidung ist zwar kein essentieller Bestandteil der Arbeit, wie der Künstler betont, aber es zeigt wie allumfassend das Thema der Ordnungen in seiner Arbeit enthalten ist.

Uriarte muss nicht lange nach systematischen Zusammenhängen, in Zahlen, Maßen und Verhältnissen suchen – sie verfolgen ihn von ganz alleine wie es scheint, und ergeben sich durch minimales Zutun. Oder gar durch Zufall?
Nein, Zufall ist es sicherlich nicht. Denn die Allgegenwärtigkeit ordnender Prinzipien in dieser Kunst erklärt sich selbstverständlich in erster Linie über das Umfeld aus dem sie ihr Material entwendete und über einen Begriff, der in seinem universalen Sinn ihren eigentlichen thematischen Kern beschreibt: „Die Arbeit“. Dieser wiederum führt zu einer wichtigen Frage, die man unbedingt an die Ausstellung richten muss: Ist diese mitunter auch strapazierende Abhandlung über Bürozeit eigentlich ein kritischer Hieb gegen die Monotonie moderner Arbeit, gegen unser Zeitalter des Burnouts, der verfehlten Erfüllungen und der Perversion der eigentlichen Begrifflichkeit von Arbeit?

Uriarte möchte dies verständlicherweise jedem selbst überlassen – und doch glaube ich, dass man die Ausstellung ohne diesen Aspekt des Kritischen in einer Interpretation nicht vollständig erfassen kann. Zu zahlreich und zu schlüssig sind die Analogien, die seine formalen Entscheidungen im Bereich gesellschaftlicher Paradigmen aufrufen, als dass man seine Kunst tatsächlich endgültig abgleichen könnte mit den nach außen abgeschirmten Haltungen jener Kunstströmungen – Minimalismus und Konzeptkunst – in deren Tradition sie auf den ersten Blick zu stehen scheint.
Das Spiel mit Fern- und Nahsicht, die in den Kritzel-Arbeiten im roten Raum am besten zum Ausdruck kommt, ist ein gutes Beispiel: Der nur in Nahsicht erkennbare Strich steht für das Individuum, die Auflösung in verschiedene Stufen von Dichte, die sich mit Abstand zum Bild einstellt, ist ein Sinnbild für die übergreifenden Arbeitssysteme, in denen sich das Individuum auflöst, und unter deren Diktat niemand mehr einen Sinn erfragt.

Der Grund für die markante Aktualität dieser Ausstellung liegt auch im bedenklichen Wandel des heute politisch gewollten Lebens, vor allem aber in der hochlebendigen Debatte, die in den letzten Jahren auf verschiedensten Kanälen darüber geführt wurde, und an die man unweigerlich denken muss, und auch denken sollte, wenn man dieser Tage durch die Villa Zanders läuft. Es ist das „Phänomen der Bullshit-Jobs“, wie der zur Zeit allgegenwärtige Anthropologe David Graeber die rätselhafte Transformationsgeschichte der Arbeit zum Selbstzweck und zum Opiat gegen eine bewusste Gesellschaft nannte, die einem in den Sinn gerät: Ein immenser Teil der heute in Industriestaaten verrichteten Arbeit ist eben nicht produktiv, sondern rechtfertigt seine Existenz nur noch aus den Notwendigkeiten geschlossener bürokratischer Systeme. Graeber wies in seinem Essay schon auf die unschätzbaren moralischen Schäden hin, der sich aus dieser Situation ergeben, in der die meisten Menschen ihre Zeit mit Arbeit verbringen, von der sie selbst nicht glauben, dass sie wirklich notwendig ist.

Uriartes Kunst greift diesen Faden auf, indem er genau diesen Zirkel und seine Relikte maßlos überspitzt und in den Kunstraum bringt. Der versöhnliche Gedanke, der Uriartes Bürozeit geistig begleitet, könnte dabei folgendermaßen formuliert werden: Wenn die Arbeit keinen spezifischen und außer ihrer selbst liegenden Zweck mehr erfüllt, dann macht dies Millionen von Arbeitern zu stillen und heimlichen Künstlern.

Je länger man sich in der Ausstellung aufhält, um so unerträglicher drängt sich die alle Räume durchdringende Klanginstallation auf, in der in einem achtstündigen Loop im Sekundentakt fortwährend die Bürozeit durchnummeriert wird. Noch auf dem Treppenabgang verfolgt sie mich, kriecht mir ins Ohr und schiebt mich mit großem Schwung nach draußen, wo die Sonne hinter dem Nebel wohl wieder voll ist und die Zeit – diesen zentralen Hinweis nehme ich von Uriarte gerne an – nicht nur Quantität sondern auch Qualität bedeutet.

Julius Tambornino hat Kunstgeschichte, Musikwissenschaften und Philosophie studiert und lebt als freier Autor in Köln.


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