Heike Weber


Nichts ist wie es scheint – Andreas Richartz über Heike Weber „23“ in der Villa Zanders, Bergisch Gladbach, bis 29.5.16

23 ist eine schräge Zahl. Ungerade auf jeden Fall, vielleicht nichtssagend, unbestreitbar eine Primzahl. In den letzten einhundert Jahren wurde sie zudem markant mit popkultureller Bedeutung aufgeladen: In einer fiktiven Numerologie der berühmten Illuminaten-Trilogie Robert Wilsons ist sie die Zahl des Unglücks und der Zerstörung. Aber nicht nur das. Auch in den unendlichen Weiten kruder Verschwörungstheorien belegt die 23 einen prominenten Platz: Julius Cäsar wurde durch 23 Messerstiche ermordet. In Star Wars wurde Prinzessin Leia in der Zelle AA-23 gefangen gehalten. Und im Film Airport sitzt der verrückte Terrorist auf Platz 23. Und als Slang-Idiom in den USA kursiert die 23 („Twentythree!“) seit über einhundert Jahren als Synonym für wenig freundliche Imperative wie „Hau ab!“, „Mach dich vom Acker!“ oder „Schnell, flieh!“

Fliehen wollen wir allerdings keineswegs aus Heike Webers fulminanter Rückkehr-Show in der Villa Zanders, nachdem sie hier 1998 mit ihrer Einzelausstellung in der Haus-Reihe „Salonstücke“ bereits einmal ein frühes Kapitel ihres inzwischen reifen Oeuvres aufgeschlagen hatte.

23 – so nennt die 1962 in Siegen geborene Künstlerin ihre Rückkehr nach Bergisch Gladbach – bezeichnet in Jahren exakt die Zeitspanne zwischen der ältesten und der jüngsten Arbeit, die Weber in der Villa Zanders zeigt. Es ist die Zeitspanne, in der die wunderbar verletzlichen und zarten, die atmenden Styropor-Kästen von 1993 entstanden (#Kästen, 1993, Styropor, geschliffen und verklebt, 6 Stück, jeweils 139 x 50 x 50 cm), die zum ersten Mal vor 23 Jahren im Kölnischen Kunstverein in Interaktion mit ihrem Publikum traten und die in situ geschaffene Raumboden-Zeichnung Sonic, die das Herzstück der aktuellen Ausstellung bildet.
Und dieses Herzstück hat es wahrlich in sich. Mit einem weißen Pigmentmarker hat Weber wellenartige Überlagerungen auf einen extra dafür verlegten und mit schwarzem Acryl vorbereiteten Holzboden gezeichnet, die ein Interferenzmuster erzeugen, das schwindeln und schwanken macht und das, noch bevor man es betritt, den Eindruck von Dreidimensionalität im Auge des Betrachters hervorruft. Trompe-l’œil in seiner nachmodernen Variante, das ist dann auch eines der wesentlichen Stichworte für die Kunst der Heike Weber. Augentäuschungen, die im Falle von #Sonic (2016, Pigmentmarker auf Acryl) vermittelst einer komplex komponierten Abfolge von konzentrischen Linien den Eindruck von räumlicher Tiefe vortäuschen, die mitnichten einer realen Entität entsprechen. Oder ist nicht eben doch real, was wahrgenommen wird? Dergestalt ist dieses faszinierende temporäre Großwerk gleichsam als Skulptur zu begreifen, als eine stoische Fata-Morgana, die gleichsam von allen Stockwerk-Zugängen der Gründerzeit-Villa irritierend gut funktioniert. Wer durch die Ausstellung flaniert und egal aus welchem Raum immer wieder einen Blick in das öffnende Entre des ersten Stockwerks hin zum Treppenhaus wirft, wird ein ums andere Mal Zeuge, wie Sonic den Boden köstlich wabern lässt.
Was und wie sehen wir? Das ist das Grundthema der Ausstellung, die einen Ausschnitt der Werke Heike Webers zeigt. Wie lösen unsere mitunter stumpf gewordenen Sehgewohnheiten Probleme der Zuordnung, der Unlogik von Eindrücken, wenn sie nur neu dazu herausgefordert werden?

Und wie ertappen sich diese Sehgewohnheiten selbst in Hinsichten eines oberflächlichen und unsensiblen Sehens? Zuletzt: Wie antizipieren unsere Sinne dennoch erfolgreich kaum noch wahrnehmbare Materialien oder Farbnuancen und wie komponieren sie diese mithilfe einfallenden Lichts zu geometrischen Artefakten und interdependenten Effekten, um uns einen Sinn dessen zu vermitteln, was wir betrachten (wollen)?
Antworten auf solcherart Fragen gibt insbesondere Webers metaphysische Installation Network (1995/2016, Haarnetze auf Nadeln): Hochfiligrane rechteckige Anordnungen von zweckentfremdeten hauchdünnen Haarnetzen, die an die Grenze der Wahrnehmbarkeit und damit auch unserer Sensitivität für die Bedeutung von Kunst überhaupt führen. Hunderte dieser Haarnetze hat Weber (mithilfe ihrer Mitarbeiterin Michaela Horstmann) auf Nadeln zu einer zwei Wände einnehmenden geometrischen Kachelung gespannt, die nahezu transparent mit Effekten korrespondiert, die sich durch die Einflüsse des durch die Fenster der Villa dringenden Lichts und dem jeweiligen Betrachterstandpunkt ergeben. Unmittelbar fühlt man sich an einen der berühmtesten Buchtitel philosophischer Monografien des 20. Jahrhunderts – „Das Sein und das Nichts“ – erinnert, könnten in diesem Raum doch tatsächlich Diskussionen ihren Ausgang nehmen, die den Gehalt und die Bedeutung einer nahezu in Unsichtbarkeit verfangenden Kunst verhandeln, welche an den Schnittstellen ihrer materialen Auflösung operiert. Und die doch auch zu klären in der Lage sich zeigten, wie Weber immer wieder mit dem Material ihrer Wahl eben auf den Raum (und damit auf ein dialogisches „Mehr“ neben ihrer Kunst) und seine diversen Eigenschaften verweist. Augenscheinlich angesichts von Network ist: Die Wände können je nach Lichteinfall dematerialisieren oder sich wichtigmachen und in den Vordergrund spielen.

Auch ihre in der Villa Zanders als Triptychon angelegte doppellagige Scherenschnitt-Werk-Reihe auf schwarzem Fotokarton (Scrub, 2013/2015 Scherenschnitt, Acryl auf Fotokarton, doppellagig, 3 Stück, jeweils 270 x 180 x 4,5 cm), deren mal rot gefärbte Rückseiten oder auch mit grün, gelb oder blau angereicherte zweite Lagen zu irisierenden Effekten auf der Wand führen, bergen dieses Geheimnis, das ausmacht, in den Dschungel ihrer dimorphen Formen hinein tauchen zu wollen.

In einem Interview während des Aufbaus zu „Park“, 2014 im Kunstverein Ludwigsburg, formulierte Heike Weber ihr künstlerisches Anliegen: „Gerade zu einer Einzelausstellung ist der Raum für mich existentiell. Der Raum diktiert für mich die Arbeit.“ Überaus gelungen und eingelöst erscheint dieser Anspruch in Bergisch Gladbach auch in anderen Räumen.
Wie für Network hat Weber über den rechten Winkel zweier Wände in einem weiteren Raum eine Wandzeichnung aus blauer Wäscheleine an Nadeln aufgespannt (Cubes, 2016, Plastikkordel auf Nadeln). Die nach isometrischen Maßgaben zunächst am Computer generierte geometrisch unlogische Verlaufsfolge der Linie gerät nach ihrer Aufbringung an der Wand durch eine zweifache Seiten-Aufsicht der Kuben zu einer derartigen Komplexität, welche in der Ausstellung Ihresgleichen sucht. Wieder handelt ihr Werk vom Spiel der Linie mit dem Raum und den Schatten, die uns in Kombination eine Illusion von Vieldimensionalität gaukeln, wieder geht es um die Poetisierung alltäglicher Stoffe, um die Beherrschung störrischen Materials.

Der gelenkte Zufall der Minimal-Art und der üppige Illusionismus des Barock: Das sind die einander ergänzenden Antipoden, zwischen denen sich das Werk Heike Webers entspinnt. Was ein weiteres Mal und doch anders fassbar wird, wenn man den Raum mit gezeichneten Wand-Teppichen betritt (Kilims, 2007, Acryl auf Papier). Nachdem Weber Muster nach Kopien von Postkarten orientalischer Teppiche auf durch Auftrag diverser Farbschichten vorbereitete große Blätter projiziert, erhält sie die Grundlage für einen schnellen gestischen Malstil, dessen Ergebnisse auch an Pop-Art erinnern. Das Ornament erscheint hier lediglich als geordnete Improvisation auf sieben großformatigen Blättern, auf denen die Zeichnungen von unten nach oben angebracht wurden, wodurch die verlaufenden Farben die Kettenden und Schluss eines realen Teppichs suggerieren. Dass manche der vorbereiteten Blätter viele auf farbiger Tinte basierende Farbschichten aufweisen, gestattet zudem ein durchbluten des Farbuntergrunds, das zu wunderbar schillernden Effekten führt.

Singuläre ältere Arbeiten und Werk-Reihen komplettieren das kuratorische Konzept, Heike Weber zur Entwicklung ihrer vielleicht größten Stärke einzuladen: Ihre gestalterische Kraft durch die Herausforderung räumlicher Bedingungen zu entfalten, die ihr nicht immer als die einfachsten erscheinen mögen. Dabei gefallen im eher leichter bespielten Raum mit dem Glastreppen-Aufgang insbesondere die Marfa Lights (2004, Bleistift auf Papier), 28 weiche, dunkel ziselierte Zeichnungen angeblich unerklärlicher Licht-Phänomene, die ausschließlich in einer verlassenen Region im Südwesten Texas bei der Stadt Marfa vorkommen und die einer Legende zufolge die ruhelosen Seelen ermordeter Apachen-Indianer beherbergen sollen. Weber malte diese farbig changierenden Kugel-Lichter, die in ihrer reduzierten schwarzweißen Version Assoziationen nach kosmischen Tiefen wecken nach einem Stipendiaten-Aufenthalt in den USA.

Heike Weber kehrt an den Ort zurück, wo ihre inzwischen weit über Landesgrenzen reichende Karriere begann. Restrospektiv zu nennen ist das nicht. Und will es auch gar nicht sein. Dafür fehlen Beispiele anderer Werkreihen und Arbeitsweisen wie Video oder Fotografie, die Weber ebenso bedient. Und es fehlen die großen Boden-Kilims aus Silikon, die sie dereinst in Ludwigsburg in einer beeindruckenden Gesamtschau präsentierte. Vielmehr ermöglicht die Ausstellung den Blick auf ein Werk, das sich nichts an gestalterischer Hoheit entgehen lässt, um größtmöglich-sinnliche UND metaperspektivische Effekte zu etablieren.
Nichts ist wie es scheint. So hieß ein enorm erfolgreicher deutscher Film mit August Diehl in den 90ern im Subtitel. Er handelte von den Fallstricken vermeintlicher Wirklichkeit, die sich mehr und mehr offenbart als etwas, was sie außer dem Angenommenen auf multiple Weise zusätzlich sein könnte. Der eigentliche Filmtitel dieses Genre-Stücks hieß: 23.


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