Aufgestockt und ab­gebrochen

Aufgestockt und ab­gebrochen


Ellen Wagner über „ICHTS“ im Dortmunder Kunstverein, bis 30.10.2016

Ein abgeschnittener Schuh, der, schnürsenkellos und strikt eingepasst in ein rechteckiges Format, allzu fest mit seinem steinigen Grund aus Marmor, Gussharz und Schiefer ver-wachsen ist – in Arbeiten wie Kailash (2016) beschäftigt sich Arjan Stockhausen (*1992 in Alfter) mit Motiven der Entfremdung in den Romanen Christian Krachts. Er zeigt alltägliche Objekte demonstrativ starr und losgelöst von ihren Gebrauchskontexten.
Die eindrücklichen, aber auch recht plakativen Bilder, die er dabei findet, sind Teil der Gruppenausstellung ICHTS im Dortmunder Kunstverein, die sich als dämmriger Zwischenzustand zwischen Gewachsenem und Gebautem, Gefundenem und Geformtem präsentiert. Zentral ist die sinnliche Begegnung mit eigenwilligen Materialien und einem ‚ausgefransten’ Ich, dessen fragmentierte Identität sowohl Chance als auch Überforderung sein kann. Bereits der Ausstellungstitel scheint aus zu vielen und zu wenigen Buchstaben zugleich zu bestehen: Er ist abgebrochenes „Nichts“ und aufgestocktes „Ich“ und verbleibt doch im eigentümlichen Stadium des Weder-Noch.

Arjan Stockhausen:„Kailash“, 2016, Plexiglas, Guss-Harz, Marmor, Schiefer, Berluti Schuhe, 41 x 31 cm.

Arjan Stockhausen:„Kailash“, 2016, Plexiglas, Guss-Harz, Marmor, Schiefer, Berluti Schuhe, 41 x 31 cm.

Besonders präsent in der Ausstellung sind die vielen kleinformatigen Arbeiten in Tipp-ex, Bunt- und Bleistift auf Papier und Holz von Aleksander Hardashnakov (*1982 in Toronto). Sie werden ergänzt um eine Reihe an Assorted Cutouts (seit 2015), die der Künstler aus grober Leinwand geschnitten und mit Sicherheitsnadeln an den Vorhängen zu einem dionysischen Reigen aus Engeln, Teufeln und Fabeltieren geheftet hat.
Hardashnakov und Stockhausen schaffen eine poetische Atmosphäre aus Ab- und Ausgeschnittenem, Überdeckendem und Verkrustetem. Was dabei hervortritt, ist vor allem eine melancholische Kontemplation angesichts der kulturpessimistisch oft beklagten Entfremdung des Menschen von seinem sozialen Umfeld. Die im gleichzeitig abgeschnitten und angestückt wirkenden Titel der Schau mitschwingende Ambivalenz zwischen einem Weniger und einem Mehr an Selbsterfahrung in unserem Alltag vermittelt sich jedoch kaum.

Unser Bezug zu den immer schon zwischen Realität und Imagination aufgeteilten Welten, in denen wir leben, ist heute stark von der Bewegung in virtuellen Sphären geprägt: vom Blick auf digital gerenderte Landschaften oder von der Begegnung mit animierten Avata-ren, die uns von hochauflösenden Screens adressieren. Auch wenn sich die Arbeiten in ICHTS hinsichtlich ihrer Materialwahl und handgemachten Fertigung nachdrücklich von der Ästhetik einer explizit unter den Vorzeichen des Post-Digitalen entstehenden Kunst absetzen, hat die Schau ihre Stärke gerade dort, wo sie sich nicht von der massenmedialen Kultur lossagt, sondern deren artifizielle Bildwelten unterschwellig herbeizitiert und verfremdet, um ihnen neue Wendung zu geben.

Aleksander Hardashnakov: „Assorted Cutouts“, 2015 – laufend, Buntstift, Bleistift auf Leinwand, verschiedene Maße

Aleksander Hardashnakov: „Assorted Cutouts“, 2015 – laufend, Buntstift, Bleistift auf Leinwand, verschiedene Maße

Sam Anderson (*1982 in Los Angeles) etwa konfrontiert uns mit hybriden Gebilden zwischen schlichten Haushalts- und Büromaterialien und Anspielungen auf den allzu bekannten Schatz der Fantasy-Motive. In Helpful Waitress Angel (2016) greift sie die Grabskulptur El Beso de la Muerte (1930) auf dem Friedhof in Poblenou in Barcelona auf: Ein Skelett hält im Original einen jungen Mann in den Armen und küsst diesen sanft auf die Stirn. Seine gewaltigen Schwingen bilden eine Art Mandorla, wie einen Durchgang in eine andere Welt und eine Abschirmung von dieser Welt zugleich, indem sie die Skulptur in einen noch diesseitigen, vorderen und einen bereits jenseitigen, hinteren Teil zu trennen scheinen.
Anderson ersetzt das anziehend und furchteinflößend wirkende Gerippe durch eine Kellnerin. An ihrem Rücken setzen verkümmerte Flügel an, die wie vertrocknete Farnblätter oder abgenagte Fischgräten aussehen. In ihrem schmalen Körperbau bei gleichzeitig kräftigen Schultern erinnert die Kellnerin an die stereotype elfenhafte Kriegerin aus dem Fan-tasy-Genre. Die zwischen profanisierter Pietà und Vanitasstillleben oszillierende Skulptur, die auf einem Bett aus Salz und Pfeffer ruht und auf mehreren Bürotischen aufgesockelt ist, hat dadurch etwas zutiefst Anti-Heroisches und Verletzliches, ohne doch Ohnmacht oder Verzweiflung auszustrahlen.

Andersons durchscheinenden Figuren mit überlängten Gliedern stehen Olga Pedans (*1988 in Kharkov) knubbelige Trolle aus bunt bemalten ausgestopften Nylonstrumpfhosen gegenüber (Trollagem Trollerei Rumpetroll, 2016). Der Begleittext bringt die teiggesichtigen Gefährten mit dem Trolling in Internetcommunitys in Verbindung: Ein „Troll“ ist ein User, der versucht, Forenunterhaltungen durch Provokationen zum Eskalieren zu bringen. Tatsächlich kann man den stolperfallenartig im Raum verteilten Gestalten eine Rolle als Störenfriede zusprechen. Sie verleihen der ansonsten sehr grazilen Ausstellung etwas angenehm Plumpes.

ichts-4

Olga Pedan: „Trollagem Trollerei Rumpetroll“, 2016, Nylon-Strumpfhosen, Polyesterfüllung, Hanf, Kokosnussfaser, Acrylfarbe, verschiedene Maße

Leichtigkeit und Schwere treffen sich auch in Frieder Hallers postapokalyptisch anmutenden miniaturisierten Architekturen aus Beton, die der Künstler (*1987 in Freiburg im Breisgau) mit Objets trouvés jeglicher Art, mit rotem Kleingeld, Plastikschläuchen, Glasscherben, Holzstöckchen oder Papierku-lissen ausstaffiert. Kniet man sich vor den Arbeiten auf den Boden, ähnelt die ausschnitthafte Perspektive derjenigen vor einem Computerbildschirm. Die menschenverlassenen Modelle könnte man also nicht nur mit Kultstätten oder geisterhaften Puppenstuben, sondern auch mit einer zu erobernden Spiellandschaft in einem Adventure-Game assoziieren. Beide Sichtweisen, die archaisch oder nostalgisch gefärbte und die von neuen Medien geprägte, sind möglich.
Als offensichtliche Fragmente zeigen sich die Objekte nicht als geschlossene Kosmen, sondern verweisen sowohl auf eine verlorene Ganzheit als auch auf die künftige Fortführbarkeit über ihre abgebrochenen Grenzen hinweg. Sie veranschaulichen in besonderem Maße die Spannung zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht, das als ein Hauptmotiv der Ausstellung gelten kann.

Immer wieder droht ICHTS ins sehnsüchtige Klischee einer ‚ursprünglich’-kindlichen Naturverbundenheit zu rutschen. Dennoch entsteht im Spiel zwischen naturnahen Materialien und künstlichen Welten ein assoziatives Feld, in dem sich Alltägliches und Fantastisches in mehrdeutiger Weise durchdringen. Die Entfernung des Ichs von seiner Umwelt kann hier nicht nur als Festgefahrenheit und Entfremdung, sondern auch als befreiendes Abstandnehmen vom Gewohnten und Voraussetzung für die Annäherung an neue Rollen erscheinen.

Fotos: Ellen Wagner


tags: , , , , , ,