1912 - Zeitreise zu unseren Ursprungsmythen

1912 – Zeitreise zu unseren Ursprungsmythen


Oliver Tepel über die Jahrhundertschau des Sonderbunds „1912 – Mission Moderne“ im Wallraf-Richartz-Museum, Köln, 31.8.bis 30.12.

Ein Skandal, es muss ein Skandal sein! 1912 findet eine umfassende Ausstellung moderner Kunst keinen Ort. Es geht um einen Blick auf jüngste Bewegungen nebst eigener Historisierung. Ein immenses Vorhaben mit am Ende 634 Kunstwerken, gestaltet von dem Sonderbund, einer Gruppe von Künstlern die bereits drei Ausstellungen in Düsseldorf durchgeführt hatte. Nach einiger Suche bot sich eine Halle am Aachener Thor in Köln an, welche 1910 zum Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel zählte und auf einer Freifläche, nahe am heutigen Aachener Weiher wiederaufgebaut wurde. Ihre geometrische Architektur mit schwarzen Einfassungen passte stilistisch perfekt.

Nach drei Jahren intensiver Arbeit gelang es einem Team um Barbara Schaefer, gut 115 Werke der Ausstellung wieder zusammenzuführen. Eine bewundernswerte Leistung, liebevoll präsentiert auf einer gesamten Etage des Wallraf-Richartz-Museums. Die eigenen Säle für Van Gogh, Cézanne, Gauguin und Picasso werden an den Wänden des zentralen Saals nachempfunden, wobei die enorme Menge einst gezeigter Van Gogh Arbeiten (mehr als die Gesamtzahl der heute ausgestellten Werke) unmöglich zu rekonstruieren wäre. Der eigene Saal für Cross und Signac sowie der, für das Sonderbund Mitglied August Deusser erhalten keine Entsprechung, vielleicht ein Indiz der Bewertung ihres Werkes in heutiger Zeit. In einem Rundweg um diesen zentralen Raum sind, wie 1912 die Künstler in Ländergruppen zusammengefasst, was eigentlich der freieren und stilistisch orientierten Hängung der ersten Sonderbund Ausstellungen widersprach. Interessant ist die Auswahl der Länder, vertreten waren (und sind): Deutschland, Frankreich, Holland, Österreich, die Schweiz, Ungarn und Norwegen (mit einem eigenen Saal für Edvard Munch). Es fehlten mit Italien, Russland und Belgien bedeutende Länder aktueller Kunst, so daß es wenig Symbolismus, keinen Futurismus oder russische Abstraktion zu sehen gibt, der Kubismus wurde ebenfalls ausgespart. Hier lässt sich die wertende Perspektive der Sonderbündler ermessen. Auch die im historischen Vergleich nochmals geringere Berücksichtigung von Künstlerinnen fällt auf. Daß die Moderne ganz sicher keine demokratische Bewegung war, merkte erst kürzlich Peter Gay in seinem Buch „Die Moderne“ an und der Sonderbund bezeugte nicht nur elitären Dünkel und karrierebewussten Pragmatismus (wie letztlich wohl auch, bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber Frankreich einen gewissen Nationalismus), er zerbrach sogar daran, die Ausstellung von 1912 war sein letztes Statement.

Auf der Hälfte des Weges werden in dem abgedunkelten Kapellenraum rückwärtig illuminierte Abbildungen Johan Thorn Prikkers Glasfenstern präsentiert, die heute in der Neusser Dreiköniginnenkirche ihren Platz haben, sowie photographische Rekonstruktionen der verloren gegangenen Wandbespannungen von Heckel und Kirchner. Ebenfalls nur photographisch erhalten sind Zeugnisse jener Kunstwerke, die heute als „Kunstgewerbe“ geringschätzt werden. Sie waren integraler Bestandteil der Sonderbund-Ausstellungen, wenngleich er sich darin nicht mit den namensverwandten Werkbünden messen konnte – 1912 sah deren allumfassendes Kunstkonzept bereits wieder auf dem Rückzug, zu forsch forderte die Malerei ihre Spitzenposition in einer Definitionsschlacht um die Hohe Kunst, welche längst gewonnen war. Hier wurde 1912 schon Geschichte präsentiert und künftige Geschichte festgelegt, so erklärt sich auch die Aufnahme eines Werks des damals just wiederentdeckten und seitens deutscher Expressionisten neubewerteten El Grecos (seine Ausstellung im Kunstpalast vertiefte unlängst jene Perspektive). Die Fundamentierung der aktuellen Historie muss weiterhin jedoch der New Yorker Armory Show 1913 zugesprochen werden. Doch nicht ohne Stolz verweisen die aktuellen Macher der Sonderbund Ausstellung auf deren vorbildhafte Bedeutung als Inspiration jener legendären Schau.

Bereits 1962 hatte es eine Sonderbund Erinnerungsausstellung gegeben, doch diesmal war die Arbeit umso präziser, vielleicht um die letzte historische Chance einer Aufarbeitung zu nutzen. Der umfangreiche Katalog, welcher die gesamte Schau von 1912 so weit wie möglich rekonstruiert, gibt davon Zeugnis. Immerhin prägte diese Ausstellung nachhaltig die junge Sammlerlandschaft des Rheinlands und Ruhrgebiets, markierte aber zugleich auch das Ende der Bedeutung der Düsseldorfer Malerschule und der sich aus ihr heraus entwickelnden Strömungen, selbst wenn zwei Sonderbündler später als Professoren an die Düsseldorfer Akademie berufen wurden.

Aber dies klingt nun wirklich nach ferner Historie, dabei zeigte man 1912 aktuellste Strömungen der Moderne, auf die sich unser Geschmack und unsere Bewertungen der Kunst heute noch berufen. Insbesondere im Bezug auf ihre skandalträchtigen stilistischen Neuerungen.Der Skandal entspann sich aber weit mehr entlang nationalistischer Kriterien oder als nationalistisch getarnter Egoismen. „Quousque tandem in: Ein Protest deutscher Künstler“ hiess 1911 die Streitschrift des Worpsweder Künstlers Carl Vinnen, welche sich auf die Aussage „Zuviel neumodischer Franzos‘!“ reduzieren lässt, ohne daß sie dabei eine völlige Abkehr von der Moderne verlangte. Doch dem Nationalismus seiner Zeit, in seinem forschen Gang hin zu einem Krieg unfassbaren Ausmasses, gereichte diese Perspektive um den Sonderbündlern in Düsseldorf den Weg zu verbauen.

Das war der Skandal und nicht diese oder jene zeitgenössischen Kritiken. Dennoch wird vielen Besuchern der sehr erfolgreichen Ausstellung die Radikalität einiger Werke zugesetzt haben. Heute heisst das: „Tut uns auch mal gut, daß was Tolles hier wieder passiert.“ – Recht hat er, jener Besucher der Vorbesichtigung und markiert auf sehr kölsche Weise den Lauf der Dinge.

Können wir überhaupt anknüpfen? – Nein, können wir nicht. Vielfältig sind die Gründe und vielleicht gar erhellend die Geschichten dahinter. Doch was aus so ferner Zeit zu uns hinüberscheint, ist oftmals viel zu vertraut, als daß es mehr als eine einstudierte Choreographie der Gesten der Würdigung auslöst. Dabei versickern seine ursprünglichen Anlässe, Bedeutungen und auch die Radikalität in den Humus des Vergessens. Es ist schon längst passiert – und doch erst 100 Jährte vorbei.

Wenn im Katalog nun der zeitgenössische Kommentar „Eben doch nur ein Künstler kleineren Stils“ das Kapitel über Van Gogh einleitet, scheint man zugleich an die Radikalität seiner Kunst, sowie die Borniertheit der Kritiker erinnern zu wollen. Selbst wenn es für den Niederländer zu Lebzeiten tragischerweise nicht zum Erfolg reichte, war der Sieg der Avantgarde längst errungen. Spätestens 1881 mit Manets Aufnahme in die Légion d’Honneur und des folgenden Jubels über sein Werk in welchen die alten Kritiker hastig einstimmten, erschien eine generelle Kritik an aktuellen Strömungen der Moderne stets als miefig konservativ. Natürlich blieb sie und damit Zolas Diktum, vom Widerstand der sich aller bedeutenden jungen Kunst entgegenstellt. Auch so ein Mythos, der bis heute wirkt. Wenn wir, wie im letzten Jahr oft geschehen, die Salonmalerei Cabanels geringschätzen oder nun das Werturteil über Van Gogh belächeln, so wiederholen wir Gelerntes. Doch wie spannend wäre es, diese Bilder wirklich als Neu und Radikal erfahren zu können? Und wie wäre die Annahme, daß die Kritiker der Moderne ihre Gründe und Argumente hatten?

Im letzten Winter bot die umfassende Ausstellung zur Düsseldorfer Malerschule im Museum Kunstpalast („Weltklasse. Die Düsseldorfer Malerschule 1819–1918“) eine solche Chance. Sich einfinden in die andere, vorhergehende Moderne, die Historien- und Schlachtenmalerei, die Landschaften und auch die sozialkritischen Genrebilder der Akademiekunst. Was ihnen zu Eigen war, ist jene bald abgewertete „Kunstfertigkeit“. Ihre Abbildungstreue galt als Wertmaßstab des Bürgers, der gerne mitreden wollte, aber nicht den geschulten Blick besaß. Doch ist Abbildungstreue in einer dabei stets idealisierenden Darstellungsweise exakt das Symbol des enormen Renaissancerevivals seiner Zeit. Die frühe Moderne verstand sich als neues Ideal und auf eine kaum zu entwirrende Weise, nicht unähnlich der Kunst der auf die Renaissance folgenden Manieristen, agierten die verschiedenen Strömungen der abstrahierenden Moderne als ihre Antithese (wie es Gustav Rene Hocke vor so vielen Jahren schon erläuterte). Das Urteil fern idealisierbarer Leitgrößen belebt bis heute die Diskussionen um Kunst und muss sich doch wohl als ein Urteil ohne festen Grund erkennen – nein, die Moderne hat der Welt nicht auf ewig gültige Maßstäbe gegeben, sondern Kriege, Massenmord, Entgrenzung und ja, auch einiges an atemberaubender Kunst.

Vieles bleibt hier aufzuarbeiten, um erweiterte Perspektiven zu ermöglichen. Christiane Heiser, verantwortlich für die eindrucksvolle Rekonstruktion und Repräsentation des Kapellenraums, vernahm zu der von ihr im letzten Jahr kuratierten Johan Thorn Prikker Retrospektive im Düsseldorfer Kunstpalast mehrmals die Frage, wieso sie sich mit einem solchen zweitrangigen Künstler beschäftigen würde. Der Blick auf seine, allein schon technisch wegweisende Arbeit entlarvt diese Urteile. Ja, vielleicht ist es Zeit diese Bewertungen und Genealogien neu zu betrachten, bevor unser Blick an den von ihnen geschaffenen Klischees erblindet.

Spannend wäre es gewesen, hätte sich mehr der so gennanten Kunstgewerblichen Exponate zusammentragen lassen, doch der kleine Originalkatalog im Taschenformat war dort seinerzeit schon nachlässig. Zum Bedauern Barbara Schaerfes sind diese Werke der Historie verloren gegangen. Der Kunstbegriff wurde nicht in allen Bereichen revolutioniert. Doch die Rekonstruktion der vom Sonderbund Mitglied Fritz Hellmuth Ehmke an die Hallenarchitektur angelehnten schwarzen Wandeinfassungen der Originalausstellung befreien den Blick wunderbar von der langweiligen Neutralität heutiger Museumswände.

So sind es in der Sonderbund Ausstellung nun auch die Werke der Unbekannteren, welche verblüffen und beeindrucken. Hier lässt sich vieles entdecken, andernorts Übersehenes oder eher Vergessenes. Per Krohgs beunruhigende Portraits, Cuno Amiets in monochromen rot gemaltes Bild oder Róbert Bérenys anmutige Variation perspektivischer Experimente aber auch eine atemberaubende „Verkündigung“ des nun wahrlich nicht unbekannten Oskar Kokoschka mit einem lächelnden Engel und Maria in Trance.

Sie alle malten, genauso wie die gezeigten Brücke- und Blaue Reiter-Künstler oder die französischen Stars, vor allem Landschaften und Frauen. Es waren nicht die Sujets, welche Radikalität bekundeten, es war die subjektive Perspektive, die Freiheit, der forschenden Abstraktion und auch die Unmittelbarkeit vieler Ausdrucksformen. Nach einiger Zeit stellt sich in der Betrachtung eine gewisse neue Sensibilität ein, man geht hin und her, vergleicht, vergisst und erinnert sich auf’s Neue. Die Zeit verrinnt in „1912 Mission Moderne“, während die Wahrnehmung immer mehr einfängt. Und dann ist es wieder da, sogar mit nachhaltiger Kraft: jenes Gespür für das Neue, für die Vielzahl der Möglichkeiten und jener atemberaubenden Energie im Blick auf die Welt.


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